Hoher Preis der EU für verhinderten Brexit
EU-Gipfel in Brüssel beschloss weniger Sozialleistungen für europäische Zuwanderer in Großbritannien
Bis in die Nacht zum Sonnabend hatte es gedauert, ehe sich nach zweitägigem Tauziehen Großbritannien und die anderen 27 EU-Staaten auf einen Kompromiss zu Londons Forderungen geeinigt hatten. Premier David Cameron will damit bei der anstehenden Volksabstimmung in Großbritannien für einen Verleib in der EU eintreten.
Cameron bekommt also seine »Notbremse«, wie er es selbst, halb drohend, halb warnend, nannte, um die Zuwanderung aus EU-Staaten zu beschränken. Steigt künftig die Zuwanderung auf ein »außergewöhnliches Ausmaß«, kann London einen »Schutzmechanismus« beantragen, um Sozialleistungen wie Lohnaufbesserungen und den Anspruch auf Sozialwohnungen zu streichen oder zu kürzen. Laut Vereinbarung ist die Anwendung dieser Sonderregelung höchstens für eine Dauer von sieben Jahren möglich. Cameron war mit der Forderung von 13 Jahren in die Verhandlungen gegangen.
Der Premier sieht sich dennoch als Sieger, und das kann er wohl auch trotz aller Lobeshymnen besonders von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Bundeskanzlerin Angela Merkel über die vermeintliche Ausgewogenheit des Kompromisses. Es können zwar nun »nur« steuerfinanzierte Sozialleistungen für Zuzügler aus anderen EU-Ländern eingeschränkt werden. Aber da dies auf das Königreich zutrifft, gilt die Regelung als maßgeschneidert für Großbritannien.
Vor allem bei osteuropäischen EU-Ländern stieß die Möglichkeit, Kindergeldzahlungen vom Aufenthaltsland des Nachwuchses abhängig zu machen, auf Missfallen. Zahlenmäßig derzeit am meisten betroffen wären polnische Kinder, die in der Heimat der Eltern bleiben, während diese zum Arbeiten ins britische EU-Ausland gehen. Künftig muss London den Eltern in Großbritannien nicht mehr zahlen, als sie zu Hause bekämen.
Bis 2020 sind aber nur neue Zuwanderer von der Regelung betroffen, erst danach alle EU-Ausländer. Es ist darüber hinaus nicht so, dass die neuen Bestimmungen nur Britannien zunutze kommen können. Den anderen EU-Staaten steht es frei, sie bei sich zu Hause ebenfalls einzuführen. Von Merkel wurde am Sonnabend kolportiert, dass sie sich dies für Deutschland durchaus vorstellen könne.
Cameron gab am Sonnabend nach einer Kabinettssitzung in London bekannt, dass am 23. Juni das britische Referendum über die weitere EU-Mitgliedschaft stattfinden werde; eine der, wie er erklärte, »wichtigsten Entscheidungen unserer Generation«. Noch bedarf die Volksabstimmung einer Bestätigung durch das Unterhaus, aber an dieser zweifelt niemand.
Mit dem »Erfolg« der Brüssel-Reise im Rücken will Cameron gegen den »Brexit«, nach »british exit«/britischer Austritt, für einen Verbleib seines Landes in der EU werben. »Europa zu verlassen, würde unsere wirtschaftliche und nationale Sicherheit bedrohen«, sagte Cameron. Der Brexit brächte »eine Zeit der Unsicherheit, einen Sprung ins Dunkle«. »Mit meinem ganzen Herzen und mit meiner ganzen Seele« wolle er sich dafür einsetzen, seine Landsleute vom Verbleib in der EU zu überzeugen.
Mit sehr ähnlichen Worten hatte er 2014, am Ende erfolgreich, für den Verbleib Schottlands im Vereinigten Königreich geworben. Auf Zustimmung aber musste Cameron zumindest am Wochenende verzichten. Zuhause auf der Insel gibt man sich überhaupt nicht so zufrieden mit dem »Mitbringsel« des Premierministers aus Brüssel wie dieser selbst. Die gefürchtete Londoner Boulevard-Presse gibt den Ton vor, der mit »despektierlich« noch milde umschrieben scheint.
»Nennst du das einen Deal, Dave?«, fragte die Londoner »Daily Mail«. Der »Daily Express« sieht gar einen »Rückzieher« Camerons gegenüber seinen vorher abgegebenen Versprechen. Nicht einmal die »Times« entdeckt Schätzenswertes in Camerons Verhandlungsergebnis und überschüttet ihn mit beißendem Spott. Er habe aus Belgien, dem »Land der Pralinen«, nichts als einen »dünnen Haferbrei« mitgebracht. Das Königreich habe Besseres verdient und Besseres erwartet. Jetzt erwarte Cameron in der Heimat ein »harter Kampf«.
Die ersten Dolchstöße gab es noch am Sonntag - aus dem eigenen Lager. Gleich fünf Minister erklärten, dass sie im Gegensatz zu Cameron beim Referendum für den Austritt Großbritanniens eintreten würden. Zu ihnen gehören Justizminister Michael Gove und Arbeitsminister Iain Duncan Smith. Feuer gab es natürlich auch von den eingefleischten EU-Feinden. Nigel Farage, der Chef der UKIP, erklärte den 23. Juni zu einer »goldenen Gelegenheit« für die Briten, die »Kontrolle über unser Land zurückzugewinnen«. Das Institut Survation hatte laut AFP schon im Januar 47 Prozent der von ihm Befragten für Verbleib in der EU gezählt, 53 Prozent für einen Austritt. Es werden nicht weniger geworden sein.
Obwohl gerade die »Unabhängigen« von der UKIP schäumen, das britische Unterhaus habe noch immer kein Recht, schlechte Regelungen aus Brüssel einfach per Abstimmung außer Kraft zu setzen, ist die Desintegration dennoch in Brüssel in Gang gesetzt worden: Bei EU-Gesetzesvorhaben kann das Unterhaus wie andere Parlamente auch binnen eines Vierteljahres nach Vorlage eines Entwurfs diesen verwerfen, um das Vorhaben zu Fall zu bringen. Alleine vermag Großbritannien das aber nicht. Noch nicht. Nötig ist für diesen Fall, so heißt es, eine »Mehrheit von 55 Prozent der nationalen Parlamente« in der EU. Welches Regularium sich dahinter verbirgt, werden die »Brexit«-Freunde bald offenlegen. Mit Agenturen
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