Die Tat macht Täter
Hasko Weber inszeniert in Weimar »Faust. Der Tragödie zweiter Teil«
Da sitzt einer in der Bühnenmitte wie in der Burnout-Falle, unbeweglich, stumpf, ohne Reaktion. Sind wir tatsächlich am Beginn von Goethes »Faust. Der Tragödie zweiter Teil« in einer »anmutigen Gegend«? Hören wir die Worte »Des Lebens Pulse schlagen frisch lebendig«? Man hört es wohl, doch fehlt der Glaube. Der Regie-Befund scheint klar: Faust wird zum Havarie-Fall des von ihm selbst vergotteten Prinzips: »Am Anfang war die Tat«.
Gleich zu Beginn sind wir schon im illusionslosen Zustand des Danach. Faust hat das Glück auf seinem hastigen Transit durch alle Weltgegenden und Zeiten nicht erjagen können. Es entzieht sich vehement seiner gierigen Umarmung. Weniger Aktionismus und mehr Kontemplation, beschauliche Ruhe statt tatensüchtiger Ruhelosigkeit - vielleicht wäre er dann erfüllt und nicht so entleert wie jetzt? Klar ist, worauf Hasko Weber in seiner Regie zielt: eine Generalkritik des modernen Menschen von seinen Ursprüngen an, dem Prinzip Selbstverwirklichung.
Zum Grundproblem des zweiten Teils von Goethes »Faust« wird die teuflische Mobilität. Wieviel Bewegung ist für das Leben heilsam, ab wann ist Tempo mörderisch? Der immer schnellere Austausch von allem mit allem, dieses »veloziferische« Prinzip kommt mit Mephisto in die Welt - und verwandelt nicht nur Gold in Papiergeld, auch Sinn in Unsinn. Messbarer Wert ist am Ende nur noch ein Äquivalent. Wofür? Für die verbrauchte Zeit, für nichts, was eine Substanz, aber dafür eine universell austauschbare Funktion besitzt.
Und noch etwas ist neu im zweiten Teil des Faust, den Goethe an der Schwelle zu den 1830er Jahren vollendet - es ist jenes Jahrzehnt im 19. Jahrhundert, wo unsere industrielle Gegenwart beginnt: Die Dampfmaschine dominiert jede noch so große Körperkraft, die Eisenbahn zeigt den Pferden, was Tempo ist! Standen sich am Anfang des ersten Teils der Tragödie (den Hasko Weber hier am Deutschen Nationaltheater Weimar bereits vor zwei Jahren inszenierte) Faust und Mephisto als zwei gegensätzliche Prinzipien gegenüber, so hat Faust jetzt bereits das teuflische Prinzip der Negation verinnerlicht. Faust und Mephisto sind eins geworden auf ihrer Reise erst durch die kleine, nun durch die große Welt.
In diesem ersten Bild ist Faust schon nicht mehr Herr des Geschehens, das sind andere. Die dienstbaren Geister um ihn herum haben das Kommando übernommen. Eine Putzkolonne, mit schwerem Akzent deutsch sprechend, schiebt ihn mit ihren Wischmobs ins geschichtliche Abseits. Es geht offenbar auch ohne ihn, den prätentiösen Geistesfürsten von gestern?
Es gab bereits erste hämische Reaktionen auf diesen »popartigen« Weimarer Faust II »für Touristen«. Das scheint höchst unangebracht, denn dieser Versuch aus über zweihundert Seiten komprimiertestem mythologisch-philosophischen Traktat eine bühnentaugliche Spielfassung zu destillieren, ist ebenso intelligent wie unterhaltsam. Vor genau zehn Jahren sah ich hier in Weimar ebenfalls einen Faust II, den Laurent Chetouane als getanzte Textpartikel-Performance aufführte, was zu einem - für Weimarer Verhältnisse - heftigen Skandal führte. Wütende Besucher gingen definitive Kommentare rufend, mit den Türen knallend hinaus und ich wäre am liebsten mitgegangen, denn die narzisstische Chetouane-Show hatte mit Goethe eigentlich nichts zu tun.
Nicht nur daran gemessen liegt Hasko Weber mit seiner Faust-Deutung weit vorn. Auch, so scheint mir, besitzt dieser zweite Teil ein gehöriges Maß an Mut zum Uneindeutigen und Verborgenen, ohne die man besser die Finger von diesem labyrinthischen Text-Ungetüm lässt. Faust (Lutz Salzmann), Mephisto (Sebastian Kowski) und Margarethe (Nora Quest) - das ist die gleiche Besetzung wie im ersten Teil, der vergleichsweise überschaubar wirkte. Besonders Lutz Salzmann, diesen eher schmächtig wirkenden Schauspieler, traf die Kritik nach dem ersten Teil hart. Wo bleibt in diesem gehemmten Zauderer denn das Faustische?!, rief da so mancher wie stellvertretend vom Allzumenschlichen gekränkt. Wo die selbstgewisse Selbstüberhebung Fausts versackte und versickerte, darüber gibt nun dieser zweite Teil Aufschluss. Er zeigt auch sehr deutlich, dass Salzmann innerhalb von Hasko Webers Konzept keine Fehlbesetzung war, sondern uns von Anfang an sehr präzise das entleerende Prinzip Weltverausgabung vor Augen führte. Denn hier geht es um nicht weniger als das Betriebsgeheimnis unserer kapitalistischen Moderne, das von unsichtbaren Äquivalenten (dem Wertverhältnis, das aus einem Zeitverhältnis resultiert) beherrscht wird. Sogar Mephisto wird vom Apparat aufgesogen, der massige Sebastian Kowski dringt als - zu Recht biegender - Interpret des mörderischen Tat-Prinzips, dem Fausts huldigt, nicht mehr durch.
Macht und Krisen der Macht, die sie nur um so skrupelloser werden lassen, sehen wir im »Saal des Thrones« in der Kaiserpfalz, in Griechenland, einer vermeintlich offenen Gegend, die sich jedoch sofort wieder palastartig schließt, bis zum Biedermeierbild um die - im Namen des Fortschritts - hingemordeten beiden Alten Philemon und Baucis. Nicht nur der Orts- und Zeitenwechsel sind bei Goethe zu viele, auch seine mythologischen Figuren stellen eine dramaturgische Unlösbarkeit dar. Furcht und Hoffnung, Klugheit und Sorge treten auf, auch Grazien und Parzen, Faune und Satyre, Sirenen und Spinxe, Gnome und Riesen, Engel und Büßerinnen, dazwischen historische Gestalten wie Thales und Anaxagoras, nicht zu reden von solchen - künstlichen - Geschöpfen wie sie der beflissene Wissenschaftler Wagner hervorbringt: Homunculus.
Es ist so viel zu viel, dass man seinen bisherige Verstehensweisen aufgeben und sich blindlings in den Fluss der Motive hineinwerfen muss. Welch ein Mut vom alten, etablierten Klassiker Goethe, hier so ein Chaos zu veranstalten, das geradezu in ein Lob der Anarchie mündet! Was wir hier sehen: Staatskunst im Stadium uneingestandener Verzweiflung.
Anfangs eine sich technisch selbst reproduzierende Walpurgisnacht, ein großer Marx-Kopf, der schließlich wie eine Rakete gen Himmel startet (Bühne: Oliver Helf). Vor allem sind es Flächen, nicht Räume, die uns gefangen nehmen. Widerständiges wird von grellem farbigen Licht verhüllt, von schrillen Beats zersägt, bis hin zum »Chorus mysticus«, der das kryptisch-faszinierende Schlusswort spricht: »Alles Vergängliche / ist nur ein Gleichnis; / Das Unzulängliche, / Hier ist›s getan; / Das Ewig-Weibliche / zieht uns hinan.« Wie war das noch mit Fausts Weg zu den Müttern?
Es ist ein Abend der Bühnenmaschine, gegen die die Schauspieler mit Lust ankämpfen. Wann sah man Elke Wieditz so überzeugend bei der Sache wie ausgerechnet als hexenhafte Helena? Auch Jonas Schlagowsky als Kaiser und Fridolin Sandmeyer als Proteus, als einer der drei Gewaltigen und als Euphorion sind schauspielerische Entdeckungen dieser Inszenierung, an der Hasko Weber mit dem Ensemble elf Wochen arbeitete.
Eindringlich Faust Todestraum: »Ein Sumpf zieht am Gebirge hin«. Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sich erobern muss? Das klingt so imperialistisch wie es gemeint ist - derweil kommt der Pflegedienst zum bewegungsunfähigen und blinden Greis Faust, diesem Wrack im Schlafanzug, das große Töne spuckt! Denn nicht am großen Graben wird hier gearbeitet, wie er meint, sondern man schaufelt nur sein Grab.
Natürlich scheint auch diese gut drei Stunden dauernde Spielfassung ein Übermaß, das jedoch nur ein Ausschnitt eines noch weitaus größeren Übermaßes ist, das uns Goethe - im versiegelten Päckchen - postum vor die Füße geworfen hat. Aber Regisseur Hasko Weber schlägt sich seinen Weg durchs Gestrüpp und wie er das angeht, hat etwas Bezwingendes. Schlüssig etwa der sich durchziehende Kampf des neptunischen mit dem plutonischen Prinzip.
Goethe hatte es nun mal mit dem Feuer als universalem Verwandlungsstoff! Und wenn dann schließlich die Kerze, auf die die auftrumpfende Lichtshow (so viel Sonnenbrillen sah man nie!) einschrumpft, dieses Lebenslicht Fausts, erlischt, dann hat auch Mephistos Feuerzeug Ladehemmung.
Nächste Aufführungen: 5. und 11.3.
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