Leipziger Buchmesse: Glücklich ist gefährlich

Überfüllung in der Problembranche: Das war die Leipziger Buchmesse

Kurz vor Platzangst: Ab Samstagmittag wurden den Besuchermassen keine Tickets mehr für die Messe verklauft.
Kurz vor Platzangst: Ab Samstagmittag wurden den Besuchermassen keine Tickets mehr für die Messe verklauft.

War das ein Scherz oder nicht? Am Samstagvormittag hörte ich einen stämmigen Mann, der mir entgegenkam, zu seiner Frau sagen: »Wir sind Deutsche, wir gehen rechts rum.« Ich konnte ihn nicht näher betrachten, zu großes Gedrängel, noch mehr als sonst auf der Leipziger Buchmesse. Man fühlte sich wie in einem langen Stau auf der Autobahn, nur zu Fuß. In den Gängen in den Hallen und ganz besonders in den Röhren, die die Hallen verbinden, stieg die Platzangst langsam hoch, während man sehr lang vorwärtskam, in der Spur gehalten vom Buchmessenpersonal, das die Besucherströme regelte und darauf achtete, dass man nicht auf der Fußgänger-Gegenspur ausscherte, um zu überholen. Ab Samstagmittag wurden keine Eintrittskarten mehr verkauft, damit die Leute nicht durchdrehen.

Die längste Schlange, die ich sah, stand hinter Absperrband vor dem Lyx-Verlag an. Ein Stand, der aussah wie ein rosafarbenes Puppenhaus in groß, in dem wie in einem Buchladen die in rosa Covern erschienenen New-Adult-Bestseller »voller Drama, Knistern und großen Gefühlen« in den Geschmacksrichtungen »Romance«, »Problems«, »Fantasy« und »Suspense« eingekauft werden konnten. Nicht als Sondereditionen für Sammler*innen oder so, sondern in ganz normalen Ausgaben, wie sie auch in einem x-beliebigen Geschäft und Versanddienst zu haben sind. Warum bilden die jungen Menschen dafür in den Besucherschlangen der Messe eine extra Schlange, ohne alle Teenage-Hysterie, wie man sie von Livekonzerten kennt? Ist das vielleicht eine pubertäre Geduldhaben-Challenge? Nein, dieses fast schon sediert anmutende Anstehen und Kaufen sei eine Art »Happening«, erklärte mir eine Verlagsmitarbeiterin, die wie eine Verkehrspolizistin diese Kaufbewegungen regeln musste.

Auf jeden Fall ist Lyx eine Goldader für den Bastei Lübbe Verlag, dem er als Imprint gehört, inmitten der Problembranche Buch (alles wird teurer und weniger nachgefragt). Nach Angaben des Verbands deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller können (VS) geschätzt nur zwei Prozent der hiesigen Autor*innen ausschließlich vom Schreiben leben, alle anderen gelten als »hybrid erwerbstätig«, das heißt: sie brauchen eine Zusatztätigkeit. »Wir können nur vom Schreiben leben, wenn wir nicht vom Schreiben leben müssen«, brachte es die VS-Vorsitzende Lena Falkenhagen auf den Punkt, als sie auf der Messe die Ergebnisse einer »Honorarumfrage« ihres Verbandes vorstellte. Demnach geben nur 17 Prozent an, »gute bis sehr gute Einkünfte« mit ihrer Schreibtätigkeit zu erzielen. Laut Falkenhagen gebe es unter den deutschen Autor*innen 40 Einkommensmillionäre. Doch der durchschnittliche Verlagsvorschuss, von dem man dann ein ganzes Buch schreiben soll, was schon mal ein Jahr und länger dauern kann und von der Bundesagentur für Arbeit als »hochkomplexe Tätigkeit« eingestuft wird, beträgt 3500 Euro.

Und das war’s dann auch schon oft mit der Honorierung. Andererseits sagte mir Barbara Kalender, die mit Richard Stoiber den März-Verlag als Zwei-Personen-Unternehmen führt: »Wir beuten uns selbst am meisten aus.« Auch wenn oft am Samstag oder Sonntag gearbeitet wird, bleibe leider immer noch zu viel liegen. März ist von den kleinen Verlagen noch einer der bekanntesten und renommiertesten. Und er ist auf der Messe, deren Gebühren sich viele Verlage und Zeitungen, darunter auch das kleine »nd« und die große »FAZ«, nicht mehr leisten können. Die gewaltigen Besucherströme der Messe suggerieren einen anderen Eindruck, sie schieben sich über die Sichtbarkeit der ökonomischen Krisen wie die großen Ozeane über die ökologischen Katastrophen wie den Plastikmüll.

Davon kann auch das reiche Norwegen, das dieses Jahr das Gastland der Messe war, nicht mit seinem demonstrativen Schon-alles-in-Ordnung-Sozialdemokratismus ablenken, den der Erfolgsschriftsteller Erik Fosnes Hansen am Samstag bei der Langen Nacht der norwegischen Literatur mit einem landestypischen Sinnspruch präsentierte: »Die Sonne scheint auf dich / der Schatten fällt auf mich / doch grün ist das Gras für alle.« Wie schon oft bei Messen wurde auf den Gängen über das Gastland kaum gesprochen, zu bieder und knausgårdisch selbstreferenziell-erwartbar waren auch seine Präsentation und sein Programm in Halle 4.

Interessanter und aufregender war das, was in der Nachbarschaft am Stand von Traduki, dem Netzwerk für Autor*innen und Übersetzungen aus Südosteuropa, passierte. Etwa, wenn die bosnisch-kroatische Autorin Asja Bakić aus »Leckermäulchen«, ihrem neuen zweiten Band mit Erzählungen im Verbrecher Verlag, vortrug, angekündigt als »Feminismus im Zeitalter des posthumanen Barock«. Sie las eine Geschichte über eine junge Frau, die über Nacht blind wurde – weil sie, wie sich herausstellt, in einem Bett unter einem gläsernen Kruzifix masturbiert hatte, das dann heruntergefallen und zerbrochen war. Eine kafkaeske Strafe von Gott oder von wem auch immer, sehr lustig. »Wie werden solche Erzählungen in Kroatien aufgenommen?«, wollte die Traduki-Moderatorin Maja Gebhardt wissen, Bakić antwortete nur mit einem Wort: »Schlecht.« Sie sei »Kommunistin und Feministin«, aber sie wolle keine Manifeste verfassen, erzählte sie, sondern Kurzgeschichten, weil die viel schwieriger zu schreiben seien, denn sie würden die Leser*innen allein lassen, ohne den erklärenden Zusammenhang eines Romans. Gerade in den politisch äußerst schwierigen Zeiten, die auf uns zukommen, müssten »wir lernen, irritiert zu sein«, meinte Gebhardt. Man sollte sich nicht immer super fühlen, »glücklich ist gefährlich«.

Vom Gefühl des Alleinseins handelt auch das schöne Buch »Ostflimmern«, das der Künstler Philipp Baumgarten und die Sozialwissenschaftlerin Annekathrin Kohout beim Mitteldeutschen Verlag herausgegeben haben. Darin findet sich eine Auswahl von Fotos eines leeren Ostdeutschlands; das sind aber keine alten verblichenen SED-Ruinen, sondern Zweckbauten aus den 90er Jahren, die aussehen wie gebaut und nicht abgeholt: Supermärkte, Vorstädte und Industriegebiete. Der Westen im Osten, der zum Westen wurde. Es gehe um die Kipppunkte, wie Baumgarten auf einer Veranstaltung des MDR erzählte, und um Wechselbeziehungen, so wie der Ostler erst zum »Ossi« werde, wenn er im Westen auftauche und der Westler zum »Wessi« im Osten. Als Baumgarten, geboren 1985 in Zeitz, im Westen studierte, fand er das zu doof und teilte seine Freunde in »Südis« und »Nordis« ein.

Zusammen mit 13 Autor*innen, darunter Marlen Hobrack, Lukas Rietzschel und Paula Irmschler, präsentieren sich Baumgarten und Kohout als »Wir Wende-Millenials«, die in den 80er und 90er Jahren geboren wurden, um »eine kühle Prise durch die Grabenkämpfe der Gegenwart flimmern zu lassen«, wie Baumgarten auf einer Veranstaltung des MDR erzählte. Das Grundgefühl sei ein »Hin- und-her-Gerissensein« zwischen Ostgeschichte und westlicher Popkultur. Die Verteidigung der DDR sei heute in die Hände der Reaktionäre gefallen, die AfD und ihr Umfeld würden den untergegangenen Staat für sein Preußentum preisen und betonen, dass es weder Reeducation-Programme noch 68er Rebellion gegeben habe.

Aber wer hat diesen Staat dann 1989/90 Hals über Kopf abgeschafft? Es war nicht die implodierte SED, sondern die CDU in Ost und West. Daran erinnerte eine Veranstaltung der Konrad Adenauer Stiftung am Freitagabend, als zwei dicke Bände mit den zeithistorisch aufbereiteten Protokollen der CDU/DA-Fraktion in der 1990 frei gewählten Volkskammer, die bei Herder erschienen sind, vorgestellt wurden. Zur Erinnerung: DA war die Abkürzung für die damals neu gegründete Kleinpartei Demokratischer Aufbruch, der auch Angela Merkel angehörte, die entgegen allen Umfragen aber kaum gewählt wurde, weil ganz kurz vor der Wahl herauskam, dass ihr Parteivorsitzender ein Abgesandter der Staatssicherheit war. Die CDU wurde dann die stärkste Partei und Sabine Bergmann-Pohl über Nacht zur Parlamentspräsidentin und damit auch zum letzten Staatsoberhaupt der DDR, die dann mit 164 Gesetzen und 93 Beschlüssen der Volkskammer verändert und schließlich versenkt wurde. Die Volkskammer war ein »Arbeitsparlament«, wie Bergmann-Pohl erläuterte, und einzigartig in der deutschen Politikgeschichte, weil ihre Hauptaufgabe darin bestand, sich selbst abzuschaffen, um in der BRD aufzugehen.

Doch das werde den damaligen Politikern nicht gedankt, klagte auf dem Podium der eingeladene SPD-Politiker und kurzzeitige DDR-Außenminister Markus Meckel, der die Sonntagsreden an den Gedenktagen zu Mauerfall und Wiedervereinigung als vorhersehbar und langweilig empfindet und die letzte DDR-Regierung für wissenschaftlich zu wenig untersucht hält und als allgemein zu wenig ernst genommen. Stattdessen werde immer nur von Helmut Kohl geredet und das sei falsch. Von den anwesenden CDUlern gab es nur leichten Widerspruch. Und es gab Rainer Eppelmann, den einstigen und bislang einzigen deutschen »Abrüstungsminister«, der sich im halb kabarettistischen Ton in langatmigen, selbstgerechten Ausführungen erging. Ursprünglich hatten sie die DDR »bunter, besser, ehrlicher, erfolgreicher« machen wollen, meinte er. Aber dann war auf einmal alles hin. Cordula Schubert, die für die CDU damals Ministerin für Jugend und Sport gewesen war, erinnerte sich an Plastiktüten, die sie in Karl-Marx-Stadt aus dem Westen bekommen hatten, mit Deutschlandfahne und CDU drauf. Die wurden für eine Mark verkauft und auf einmal liefen in der Stadt alle damit rum. So kann man den Untergang der DDR auch erzählen.

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