»Hunger«: Ungestillt

Mit Hunger und Knut Hamsun auf der Buchmesse

  • Martin Höfig
  • Lesedauer: 3 Min.
Mit der Bratwurst am Kopf kann man vielleicht zur Buchmesse gehen, nur kann man sie dort nicht essen, weil sie zu teuer ist.
Mit der Bratwurst am Kopf kann man vielleicht zur Buchmesse gehen, nur kann man sie dort nicht essen, weil sie zu teuer ist.

»Alles für Deutschland!« hallt es in meinem Rücken durch unser Viertel. Es war der Hausmeister der degewo, eine echte deutsche Frohnatur, der quer über die Straße seine Kollegen begrüßt hat. Es ist Freitagmorgen, ich haste zum Bahnhof, um meinen Zug nach Leipzig zur Buchmesse zu erwischen. »Worte bewegen Welten« lautete ihr diesjähriges Motto – und man fragt sich, wohin? Der Hausmeister war jedenfalls schnell im Hausmeisterbüro am anderen Ende des Blocks verschwunden.

Die Betonsilos unseres Sozialquartiers rauschen an mir vorbei, hier gibt es keine Eigentumswohnungen und keine Teslas, dafür etwa 80 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund, wie es hierzulande heißt – ob roter Pass oder nicht. Die Frühlingssonne kämpft sich langsam durch den kalten Dunst, doch sie wärmt hier unten nur die alte Scheiße immer wieder auf: »Alles für Deutschland«.

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Ich erreiche meinen Zug und verzehre sofort den Inhalt meiner mitgebrachten Reste-Proviant-Tupperdose. Kurz vor Leipzig bekomme ich wieder Hunger. Ich habe nur noch ein paar Münzen in der Tasche und nichts mehr auf dem Konto, am Monatsende. Es ist klar, dass ich mir auf der Messe – trotz Presseausweis und Akkreditierung – nicht mal das günstigste dort verkaufte Essen werde leisten können. Ich habe keine 6, 7 oder 8 Euro für eine kleine Portion Pommes oder eine Wurst.

Um mich abzulenken, lese ich weiter in Knut Hamsuns Debütroman »Hunger«, erschienen 1890. Der Deutschlandfunk hatte es als must read des diesjährigen Buchmesse-Gastlandes Norwegen empfohlen. »Ein Klassiker, so vielgestaltig, dass er nicht aufhört, uns zu überraschen«, sagte beispielsweise Daniel Kehlmann über den Roman. Und ja, diese Vielgestaltigkeit, die uns immer wieder überrascht, wenn wir satt und ohne jedes Problem, die Visionär*innen alle beim Arzt oder in irgendeiner Klinik und so aus den Augen und dem Sinn, dieses Buch lesen. Da überkommt eine*n ein wohliger Schauer und man spürt mal wieder kurz, dass man ein fühlendes, soziales Wesen ist. Kurz.

Auf der Messe bin ich erschlagen von den sich hin und her wälzenden Massen, einer Suppe aus angeblichen Literaturfreund*innen und Cosplayer*innen in den verrücktesten Outfits. Ich habe im Grunde keine Ahnung mehr, was das alles hier eigentlich soll. »Ich kannte mein heiteres Gemüt gar nicht wieder, und allerenden befielen mich die eigentümlichsten Heimsuchungen«, schrieb Hamsun in »Hunger«.

Später lese ich auf der Seite von MDR-Kultur: »Auf der Leipziger Buchmesse ist eine Gruppe mutmaßlicher Betrüger aufgeflogen. Sie soll vorgegeben haben, Geld für eine Hilfsorganisation zu sammeln.« Ich wünschte, selbst darauf gekommen zu sein. Auf meine Klingelbüchse hätte ich geschrieben: »Bitte spenden Sie für die Millionen deutschen Opfer, die bis heute unter Johanna Haarer und ihrer Nazi-Pädagogik leiden, ohne es zu wissen«. Irgendwie so etwas.

Das Interview, für das ich hauptsächlich zur Messe gekommen war, bekomme ich hin und bin froh, als ich die Messehallen bald darauf einigermaßen unbeschadet wieder verlassen kann. Im Zug zurück nach Berlin lerne ich eine Kollegin kennen. Sie ist Sprecherin vor allem für Radio- und Fernsehbeiträge und sieht sehr müde aus. Wir unterhalten uns über dies und das, was mir und ihr gutzutun scheint. Das Gespräch wird nur manchmal von einem ihrer müden Seufzer oder vom Knurren meines leeren Magens unterbrochen. Doch ich frage sie nicht, ob sie noch etwas zu essen hat, schließlich sind wir ehrbare Leute dieser Gesellschaft und es ist ja auch nicht mehr 1890.

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