Never change a running system

Woher kommt der ganze Staub?

Mächtig ins Schwitzen geraten: ziemlich Alter Gouda
Mächtig ins Schwitzen geraten: ziemlich Alter Gouda

Es scheint ein Gesetz der Gravitation zu sein, dass Stapel, die sich anhäufen, wie von selbst immer höher werden. Auf Akkumulation folgt vor allem eines: mehr Akkumulation. Wie Geld sich, ungerechterweise, von selbst vermehrt, so arbeitet auch der Schmutz sich selbst zu: Staub produziert Staub und selbst die romantischste Sammelleidenschaft wird irgendwann zum Messietum.

Ebenfalls ein Gesetz der Gravitation scheint es zu sein, dass auf Trägheit mehr Trägheit folgt. Ein ruhender Körper wird, je länger er im Ruhezustand verweilt, immer träger. Ein aktiver Körper hingegen produziert, je mehr er in Bewegung ist, von selbst Energie.

Dass Physik nicht nur ein Schulfach ist, vor dessen Klausuren einem graut, sondern auch etwas, das kontinuierlich auf Körper und Seele gleichermaßen einwirkt, spürt man meistens in Krisensituationen. Solche krisenhaften Zustände zeigen sich manchmal besonders im Profanen, im Verhältnis zum häuslichen Raum, in dem wir leben wie eine Made im Speck. Je länger die Liste mit Aufgaben wird, desto schwieriger wird es, sie zu erledigen.

To-do-Liste nennt man das. Menschen schreiben Bücher darüber, Hilfe zur Selbsthilfe, Ratgeber, die Titel tragen wie »Getting Things Done«. Auch die Haushaltsaufgaben werden immer schwieriger zu bewältigen, je höher sich die Geschirrtürme aufbäumen. Man geht mit einem Staubwedel durch die Wohnung, wirbelt den Staub auf, das heißt, Hautpartikel eines vergangenen Selbst. Man sieht den Staub in der Luft glitzern und sich woanders ablagern, ein unendlicher Zyklus. Entmutigt legen wir den Staubwedel wieder ab. Wir sehen den Schmutz, er stört uns latent, wie ein visueller Tinnitus. Dennoch lassen wir ihn liegen – er nützt ja nichts. Putzen bleibt vergeblich, eine Sisyphusarbeit. Obwohl: Albert Camus hält Sisyphus ja für den »glücklichsten Menschen der Welt«, denn »er hat immer etwas zu tun«.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. Alle Texte auf dasnd.de/hohmann.

Ich erinnere mich, wie ich einen ganzen langen Sommertag im Bett verbrachte. Ich war verkatert, erschöpft, alle Endorphine, Adrenaline und Oxytocyine hatte ich am Tag zuvor ausgeschüttet, mich ganz verausgabt. Ich lag also im Bett und konnte mich nicht bewegen, aber zunehmend wurde ich hungrig. Ich schleppte mich also in die Küche, holte ein Stück Brot hervor und einen Alten Gouda aus dem Kühlschrank und schmierte mir, mit Mühe und Not, ein Käsebrot. Im Stehen aß ich das Brot – sogar Butter auf die Scheibe zu schmieren, war mir zu anstrengend gewesen – und stützte mich dabei auf der Küchenzeile ab, dann wankte ich, mit Sternchen vor den Augen, zurück ins Bett.

Ich lag also im Bett und schwitzte – nun zwar etwas weniger hungrig, dafür allerdings geschwächt von meinem kurzen Ausflug in die Küche. Da fiel mir ein, was ich vergessen hatte: den Käse, den ich ausgepackt und auf der Küchenzeile platziert hatte, wieder einzupacken. Der Alte Gouda, so fiel mir auf, schwitzte vermutlich ebenso wie ich, die ich, satt, aber schwindelig, in der prallen Sonne lag. Den ganzen Tag blieb ich dort, denn die Vorstellung, mich noch einmal in die Küche zu schleppen, um den Alten Gouda vor dem Hitzetod zu retten, kam mir unmöglich vor. Ich verfiel Stück für Stück in einen Zustand, der dem des Käses nicht ganz unähnlich war – blutarm, schimmelig und leicht müffelnd. Erst am nächsten Tag, als wir beide ganz ausgetrocknet waren, brachte ich es über mich, meinen stinkenden Freund »aufzuräumen«, das heißt: wegzuwerfen. Die Einstrahlung des Sonnenlichts hatte ihn vernichtet.

DOOM – das heißt, abgekürzt: Don’t organize, only move. Aber was ist diese vermeintliche Ordnung, auf die in dem Begriff angespielt wird? Ist ein Kistensystem, das sogenannten Stauraum generiert, wirklich eine hilfreiche Methode, um sein Leben »in den Griff« zu bekommen? Oder sind auch die unterschiedlichen Anordnungssysteme in Wirklichkeit nur eine Illusion, die es uns erlauben soll, damit umzugehen, dass wir alle gleichermaßen »doomed« sind – ein Umgang mit der Illusion, dass man der unumgänglichen Vergänglichkeit etwas entgegensetzen kann.

»Don’t change a running system«, sagt man – und es stimmt, es ist nicht ratsam, einen Stein ins routiniert laufende Getriebe der Alltagsbewältigung zu bringen. Ob Ordnung, Unordnung oder irgendetwas dazwischen – hat man einmal die richtige Sisyphusarbeit für sich gefunden, kann es gefährlich sein, sich umzustrukturieren. Just keep moving. Energie erzeugt Energie.

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