Willkür, Intrigen und Druck
Eine Ärztin im Gulag: Angela Rohr und ihr autobiographischer Roman »Lager«
In der Literatur zum Gulag ist Angela Rohr wenig bekannt. Zuletzt erschien 2010 ein Band mit Erzählungen und Reportagen der 1890 im mährischen Znaim geborenen und 1985 in Moskau gestorbenen Autorin. In dem jetzt neu veröffentlichten autobiographischen Roman »Lager« geht es um die sibirischen Arbeitslager, in denen Angela Rohr erst als Häftling, dann in der Verbannung als Ärztin gearbeitet hat.
Für die germanistische Forschung war die Biografie der Österreicherin, die neben Schriftstellerin immer schon Ärztin werden wollte, nicht leicht zu rekonstruieren. Bevor Angela Rohr den Namen ihres dritten Ehemanns Wilhelm Rohr annahm, hatte sie bereits ein bewegtes Leben hinter sich und unter acht verschiedenen Namen und Pseudonymen literarische und journalistische Texte veröffentlicht. Sie studierte in Paris und Berlin Medizin, war mit Walter Serner und Rainer Maria Rilke befreundet und traf in Moskau den durchreisenden Bertolt Brecht. Den Soziologie- und Medizinstudenten Wilhelm Rohr lernte sie in Berlin kennen. Weil er im zaristischen Polen geboren worden war, hatte er einen russischen Pass, den nach der Heirat auch seine Frau erhielt. Das Paar zog 1925 nach Moskau, wo beide bis zur Schließung am Staatlichen Institut für Psychoanalyse arbeiteten. Angela Rohr hat danach an medizinischen Expeditionen nach Sibirien teilgenommen und als Moskau-Korrespondentin für deutsche und Schweizer Zeitungen gearbeitet. 1942 wurde ihr Mann verhaftet, kurz darauf sie selbst. Ihren Mann hat sie nie wieder gesehen; sie selbst wurde 1943 nach Westsibirien verschleppt.
Die Herausgeberin Gesine Bey nennt »Lager« einen autobiografischen Roman, weil sich in der Erzählung Angela Rohrs Berichte über Erlebtes und fiktive Elemente mischen. Der Wahrheit schadet dies nicht. In 93 Passagen schildert die österreichische Autorin ihre Erlebnisse. In den Lagern, in denen sie inhaftiert ist und arbeiten muss, gibt es weder Medikamente noch genügend Platz, um die vor allem an den Folgen des Hungers und der schweren Arbeit erkrankten Häftlinge unterzubringen. Gleich zu Beginn ihrer Arbeit als Ärztin sterben in ihrer Lazarettbaracke nachts elf Männer.
Das Leben in Gefangenschaft und Verbannung, aus der Angela Rohr erst 1957 nach Moskau zurückkehren konnte, ist an Absurdität kaum zu überbieten. Willkür der Vorgesetzten, ständige Intrigen und der Druck, die kranken Häftlinge schnell wieder arbeitsfähig zu machen, prägen den Alltag. Jeder der Abschnitte in »Lager« enthält das Material für eine längere Erzählung; einige sicherlich für einem ganzen Roman. Es sind im wahrsten Sinne des Wortes »unerhörte Ereignisse«, von denen man gebannt liest, nicht wegen des Kitzels, wie der von Gesine Bey im Nachwort zitierte Heinrich Böll anlässlich der Gulag-Erinnerungen Jewgenija Ginzburgs meinte, sondern wegen der »Teilnahme - denn von Beginn an fragt sich jeder Lesende: Wie, mein Gott, wie ist es nur dieser Frau ... wie nur ist sie lebend da herausgekommen!«
Die Geschichten von »Lager« sind geprägt vom distanzierten Blick der Ärztin. Es sind vor allem Berichte, bei denen man nur hier und da den Willen der Autorin spürt, literarischen Vorbildern wie zum Beispiel Tschechow oder Edgar Allen Poe nachzueifern; literarisch werden sie die Zeit wohl kaum überdauern. Gesine Bey und der Aufbau Verlag haben den Text sorgfältig ediert und kommentiert herausgegeben. Nicht zu akzeptieren ist jedoch, dass sie für den Umschlagtitel ein Foto von Auschwitz verwendet haben.
Angela Rohr: Lager. Autobiographischer Roman. Aufbau Verlag. 445 S., geb., 22,95 €.
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