Aufklärungen über Recht

Eine aktualisierende Rechtsphilosophie aus der Feder des Juraprofessors Hermann Klenner

  • Volkmar Schöneburg
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein ungewöhnliches Buch erschien 1988. Sein Titel lautete »Streitbare Juristen«. In diesem Band wurden Juristen porträtiert, die zur Minderheit derjenigen zählen, die auf der Seite derer standen, denen das jeweils herrschende Recht zum Unrecht ausschlug. Die streitbaren Juristen, zu denen Paul Levi, Felix Halle, Gustav Radbruch, Fritz Bauer oder Wolfgang Abendroth gehören, erhielten ihre Impulse aus den Postulaten der Aufklärung: Freiheit, Gleichheit, Humanität und soziale Demokratie. Für diese andere Tradition steht auch der marxistische Rechtsphilosoph Hermann Klenner. Davon zeugt nicht zuletzt das vorliegende Buch.

Bereits der Titel zeigt die Nähe Klenners zu Marx. Hatte der doch seine Rechtsphilosophie primär als Kritik am Recht auf den Weg gebracht. Dementsprechend wird der Sammelband auch mit einem Vortrag von 1991 mit dem Titel »Was bleibt von der marxistischen Rechtsphilosophie?« eröffnet. Für Klenner hat die methodische Zentralthese der Marxschen Rechtsphilosophie, wonach Rechtssysteme aus den materiellen Lebensbedingungen der jeweiligen Epoche zu begreifen sind, weiterhin Bestand. Aber zugleich hat Marx Rechtsprobleme marginalisiert, Menschenrechte zwar nicht hemmungslos relativiert, aber unter Wert dargestellt und den Ordnungsmechanismus einer sozialistischen Zukunftsgesellschaft als einen nichtrechtlichen charakterisiert. Damit wurde nach Klenner der Unterschätzung von subjektiven Rechten, von Bürgerrechten bei »gewissen Marxisten« Vorschub geleistet.

Das Buch umfasst Aufsätze, Artikel und Vorträge aus mehreren Jahrzehnten. Der jüngste Beitrag stammt aus dem Jahr 2015, der älteste ist von 1956. In letzterem insistiert Klenner darauf, dass sozialistische Gesetzlichkeit nicht nur als Rechtsgehorsam der Bürger verstanden werden dürfe, sondern zugleich beinhalte, dass Eingriffe des Staates in die Individualsphäre der Bürger zuvor auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen seien. Es nimmt nicht Wunder, dass die Drucklegung solcher Gedanken in der DDR verboten wurde. Klenner brachten sie den von Ulbricht selbst erhobenen Vorwurf des Revisionismus, Kosmopolitismus und der Leugnung des Klassencharakters des Rechts ein.

Die Beiträge kreisen um die Themen Macht, Recht und Gerechtigkeit, Legalität und Legitimität. So diagnostiziert Klenner in mehreren Aufsätzen als den Krebsschaden der herrschenden Rechtskonzeption in der frühsozialistischen DDR die Reduktion des Rechts auf seine Funktionalität. Das Recht war nur Mittel der Macht, nicht aber deren Maß. Während im Mittelpunkt der Rechtsbetrachtungen von Marx die Reflexionseigenschaft des Rechts stand, dominierte in den staatssozialistischen Ländern dessen Instrumentaleigenschaft. Damit wurde aber die Herrschaftskontrollfunktion des Rechts aufgegeben, was sich im Strafrecht besonders negative auswirkte. Für Klenner ist Recht hingegen nicht nur Konsequenz von Macht, sondern auch deren normative Kondition. Von dieser Position aus kritisiert er u.a. das Missverhältnis zwischen Rechts- und Sozialstaatlichkeit sowie Demokratiedefizite in unserer Verfassungsordnung, den mit der Ausdehnung des globalen Kapitalismus einhergehenden Bruch des Völkerrechts, die Folterpraxis der USA, den Krim-Konflikt oder die völkerrechtswidrigen Kriege der letzten Jahre.

Unverzichtbar für Linke sind Klenners Erkenntnisse zum Rechtsstaat. Das Rechtsstaatsprinzip ist ein Strukturprinzip, kein Substanzprinzip unserer Rechtsordnung. Es sagt nichts über ihren interessengeleiteten Inhalt aus. Der im Grundgesetz postulierte Schutz der Menschenwürde ist zwar ein Fortschritt, aber eben nur die halbe Miete, solange nicht ihre sozialen und intellektuellen Voraussetzungen geregelt sind. Das würde aber bedeuten, die Hartz IV-Gesetzgebung abzuschaffen und die Menschenrechte auf Arbeit, Wohnung und soziale Sicherheit in innerstaatliches Recht zu transformieren. Andererseits: Die subjektiven Rechte und die formale Gleichheit der Bürger heben zwar die materiale Ungleichheit in der kapitalistischen Gesellschaft nicht auf, aber sie garantieren die Limitierung des Staates im Interesse der Freiheit des Bürgers. Sie bieten bessere Möglichkeiten für eine Demokratisierung von Staat und Gesellschaft. Der Rechtsstaat gibt auch einer Rechtsentwicklung »von unten« Raum, der der 90-jährige Klenner verpflichtet ist. Hier trifft er sich mit seinem Lieblingsdichter, dem »listigen Augsburger«, dem mehrere Beiträge gewidmet sind. Brechts Richter Azdak steht für eine Gerechtigkeit »von unten«. Die erfordert aber wiederum von jedermann und jederfrau, für seine/ ihre Rechte zu kämpfen.

Hermann Klenner: Kritik am Recht.Aktualisierende Rechtsphilosophie. Karl Dietz Verlag, Berlin. 447 S., geb., 39,90 €.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.