Hinter einem Paar Schuhe im Schaufenster

Alles hat seine Zeit. Bemerkungen zum Ende der Initiative Libertad! nach 24 Jahren linksradikaler Organisation

  • Initiative Libertad!
  • Lesedauer: 15 Min.

Schlusserklärungen aus der linksradikalen Bewegung sind oft nicht viel mehr als tote Politik. Bürokratische Formulierungen, die zwischen peinlicher Selbstkritik und schlechter Nacherzählung schwanken. Hybris trifft auf Kleinmut, mal ist die Welt Schuld, mal die Autor/innen selber. Kommen wir zu unserem Punkt: Wir lösen Libertad! auf und vollziehen damit formal, was sich schon seit ein paar Jahren abgezeichnet hat. Niemand hat auf diese letzten Worte gewartet, weil kaum noch jemand von unserer Existenz wusste. Dennoch wollen wir uns nicht stumm verabschieden, auch auf die Gefahr solcher Erklärungen innewohnender Selbstgefälligkeit hin. Wir waren die Jahre über öffentlich präsent, wir organisierten Kampagnen, gaben eine Zeitung heraus, schrieben Flugblätter. Wenn wir das endgültig nicht mehr unter diesem Namen tun, sollten wir sagen warum. Zudem sind wir eine der historischen Quellgruppen der Interventionistischen Linken (IL). Also sprechen wir nicht nur aus der Vergangenheit.

Die Begrenztheit unseres politischen Prozesses ist der zentrale Grund für diesen Schritt zur Auflösung. Wir sind in den 24 Jahren unserer Existenz nicht viel mehr geworden, gehören aber noch nicht zur gerontologischen Linken. Die meisten von uns radikalisierten sich in den 1970er und 1980er Jahren in Westdeutschland. Diese Phase linker Militanz und Subversion hat uns geprägt. Anders gesagt: In Libertad! waren bis zuletzt Genoss/innen organisiert, die eine längere politische Geschichte haben als die von Libertad!. Libertad! war für uns alle ein wichtiger Ort, jenseits des üblichen Politikbetriebs. Ein Ort substanzieller Diskussionen, ein Ausgangspunkt gemeinsamer Praxis und langjähriger politischer Freundschaft. Wir waren gerne zusammen.

Libertad!

Die Initiative Libertad! entstand aus dem Kongress gegen den Weltwirtschaftsgipfel 1992 in München. Im darauffolgenden Jahr trat die Gruppe mit der Idee eines internationalen Tages für die Freiheit der politischen Gefangenen an die Öffentlichkeit. Daraus entstand der bundesweite »Aktionstag gegen staatliche Unterdrückung und für die Freiheit der politischen Gefangenen weltweit«, der seit 20 Jahren am 18. März, dem Tag der Pariser Commune von 1871, begangen wird.
Mit ihren Kampagnen gegen Folter und exterritoriale Geheimgefängnisse, gegen Abschiebungen und Lager sowie gegen die Einführung von Isolationshaft in der Türkei adressierte die Initiative die linke Öffentlichkeit in verschiedenen Ländern. Libertad! gehört zu den Gruppen, die die Interventionistische Linke (IL) mitbegründet und sich darin eingebracht haben: Anlässlich der Mobilisierung gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007, den NATO-Gipfel 2009 in Straßburg, der Kampagnen »Castor? Schottern!« und Blockupy. www.libertad.de

Obwohl wir mit manchen unserer Projekte durchaus den Nerv der Zeit trafen, konnten wir den eigenen Handlungsraum nie wirkungsvoll erweitern. Das war eine der Grenzen, an die wir immer wieder gestoßen sind. Es war unsere Grenze als Initiative, wie es die Grenze vieler radikaler linker Projekte und Gruppen war und sicher noch ist. Hinzu kommt das Scheitern einer tatsächlichen Internationalisierung linker Politiken an der Frage der Menschenrechte und der Freiheit der politischen Gefangenen. Schon 1992, im Ausgangsjahr unserer Initiative, versickerten die Absichtserklärungen und Verabredungen im allgemeinen Zerfallsprozess linker Solidaritäts- und Befreiungsorganisationen.

Die einen versuchten in ihrem Land einen Frieden zu retten, andere sprachen aus Kämpfen, die längst Geschichte waren, wieder andere flüchteten ins revolutionäre Pathos. Es waren die Jahre der großen Fragezeichen. Die Mauer des Ostens war kurz zuvor gefallen und damit war klar, dass der sowjetische Weg zum Kommunismus unwiderruflich zu Ende war. Die ideologischen Schockwellen dieses Ereignisses kamen bei allen unterschiedlich an, je nachdem, woher sie kamen, je nachdem, wie stark ihre Politik wirklich war. Selbstverständlich glaubten wir nicht, das Ende der staatssozialistischen Entwicklungsversprechen aufheben zu können, aber wir hofften, in den Brüchen dieser Zeit eine neue Spur des Gemeinsamen begründen zu können. Dafür ließen wir uns gerne von unserem Voluntarismus überlisten, der der Macht der historischen Umbrüche letztlich aber wenig anhaben konnte. Vielleicht unterschätzten wir als linksradikale Initiative aus dem Land der stillgestellten Klassenkämpfe, wie existenziell es damals für viele Genoss/innen etwa im Baskenland oder in der Türkei war, die eigene Zukunft zu erkämpfen oder die Politik in neue Formen der sozialen Auseinandersetzung zu überführen.

Hinzu kam bei vielen Organisationen eine Politik des Alltags, die fast immer im nationalen Rahmen dachte. Verkürzt gesagt, stellte ihr Verständnis von Solidarität nicht das gemeinsame Handeln in den Vordergrund, sondern fragte danach, was in anderen Ländern ihrem Kampf zu Gute kam. Die Prioritäten lagen im eigenen sozialen Terrain und erst in zweiter Linie im internationalen Raum. So ist es zwar nicht so schwer, einen internationalen Aktionstag auszurufen, aber eine ganz andere Sache, aus der symbolischen Gleichzeitigkeit eine gemeinsame Politik zu entwickeln.

Andere wiederum dachten, dass wir in Deutschland für sie ein Solidaritätsbüro eröffnen würden. Das war aus ihren Bedürfnissen zu verstehen, aber es war nicht das, was wir für notwendig hielten. Wir wollten eine transnationale Struktur der Solidarität, an den sozialen Kämpfen und politischen Gefangenen orientiert, zugleich völlig frei von ML-Dogmatismus und ideologischer Vereinnahmung. Es waren die alten Probleme radikaler Linker, die zuweilen grotesk aktuell sind. Manches gelang uns gut. Etwa unsere Solidaritätskampagne »Kein Stammheim am Bosporus«, mit der wir gegen die Einführung der Isolationshaft in der Türkei protestierten. Sie war auch ein kollektiver Wissenstransfer. In dem von uns ermöglichten Film »Sessiz Ölüm« (»Der Stille Tod«, 2000) erzählen ehemalige politische Gefangene aus Westeuropa von ihren Erfahrungen der Einzelhaft und Weißen Folter. Der Adressat war die linke Öffentlichkeit in der Türkei.

Libertad! war als internationales und internationalistisches Projekt gedacht, nicht als revolutionäre Organisation (was immer das damals gewesen wäre). Das war nie unser Selbstverständnis. Wir verstanden uns als Teil einer weltweiten Befreiungsbewegung, auf die wir orientierten und auf die wir uns bezogen, die – weil sie nicht Organisation, sondern Prozess, also im Fluss ist – sich immer wieder neu zusammensetzt. Per Definition war Libertad! internationale Basisstruktur – mehr nicht. In unserem Verständnis machten wir nie etwas anderes als Basisarbeit in sozialen und politischen Antagonismen, was eben nicht identisch mit dem Ort von Strategiefindung und Intervention, also revolutionäre Organisation, ist. Weil diese Stelle leer blieb, wir die Notwendigkeit ihrer Herausbildung aber betonten, hatte manches die Bedeutung einer An-Stelle-Handlung. Dabei ließen wir uns mehr von George Jacksons »Connections, Connections« leiten, eben unsere Kämpfe mit denen von anderen verbinden, sie in unsere hineinziehen. Gleichzeitig wurden wir als einzige organisierte Stimme aus dem Post-RAF-Spektrum wahrgenommen. Antiimperialist/innen und Autonome der alten Schule zwar, aber halt keine Steinköpfe. Aktivistisch, aber ohne Reduzierung auf Militanz.

Einige von uns haben die Interventionistische Linke (IL) mitbegründet und Libertad! hat sich seitdem in diesem Kontext verstanden. Auch das erklärt unser langes Schweigen. Was wir in den vergangenen Jahren taten, machten wir im Zusammenhang der IL. Selbstverständlich war das für niemanden von uns. Bis heute bleibt eine spürbare Differenz, für manche ist es eine regelrechte innere Distanz. Sie betrifft unsere in Theorie und Praxis entwickelten Positionen zu Internationalismus, Menschenrechten oder gegen den kriegerischen Ausnahmezustand; sie betrifft genauso unsere Vorstellungen einer politischen Organisierung, die auf einen militanten Kollektivismus ihrer Aktivist/innen setzt. Weder wollen wir die Wiederkehr einer identitär-linksradikalen Versammlungskultur, noch sehen wir uns als bewegungslinke Nichtpartei-Partei auf der Straße. Dennoch ist die IL unser politischer Ort, weil wir sicher sind, dass die Zukunft einer radikalen Linken eine plurale sein muss und sein wird, in der immer wieder Aushandlungsprozesse über Fragen und Formen der notwendigen und der möglichen Radikalität stattfinden werden.

Die IL lebt in ihrer Praxis. Darin liegt ihr eigentliches politisches Versprechen. Seit der Mobilisierung gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm hat die IL eine Vielzahl gemeinsamer Erfahrungen akkumuliert. Wir denken an die Mobilisierung gegen den NATO-Jubiläums-Gipfel 2009 in Straßburg, an »Dresden nazifrei«, an die Initiative »Castor? Schottern!« oder an die Blockupy-Mobilisierungen und dabei insbesondere an den 18. März 2015 in Frankfurt am Main. Diese Mobilisierungen und Kämpfe haben über die IL hinaus für viele andere die Möglichkeit des gesellschaftlichen Eingreifens eröffnet und erweitert; ein Eingreifen, das gleichzeitig eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung einforderte. Wie können wir mit möglichst Vielen möglichst radikal den Alltag der imperialen Ordnung unterbrechen? Wie können wir einen Raum schaffen, in dem Hoffnungen möglich sind? Ein glaubwürdiger revolutionärer Ausweg aus unserem alltäglichen Desaster scheint trotz aller Worte und Mobilisierungen der letzten Jahre unendlich weit weg. Öffnen wir aber den Blick auf den globalen Zusammenhang aktueller Verwerfungen, Kämpfe und Revolten, ist sicherlich mehr möglich als aus der Perspektive der deutschen Deckung.

Das wurde, wie schon lange nicht mehr, im vergangenen Jahr deutlich: Die Bewegung der Geflüchteten, die sich auf ihrem Weg zusammenschlossen, die die Zäune durchbrachen oder mit Hungerstreiks und Blockadeaktionen ihre Forderungen durchzusetzen versuchten, waren nicht mehr einige, sie waren viele und sie kamen nach Europa. Und sie trafen auf eine bis in die Dörfer reichende organisierte Solidarität, die – jenseits aller antirassistischer Kampagnen und auch unserer Online-Demo gegen das Abschiebegeschäft der Lufthansa (2001) – das gesellschaftlich Gegebene manifest nach links öffnete. Niemals zuvor war die europäische Abschottung so infrage gestellt. Und niemals zuvor wurde so deutlich, dass Flucht ein politischer Akt ist, der das Recht auf ein Leben in Würde einfordert. Es war ein erkämpfter Ausnahmezustand der Freiheit, ein Fest der Autonomie und eine Erweiterung der europäischen Demokratie, schlagartig, von außen und im Sinne der Gleichheit. Wie kann das auch zukünftig gelten? Manche Linke entscheiden hier auf einmal neu, ebenso entstehen überraschende Bündnisse mit Liberalen. Aber es ist die klaustrophobische Seite des Jahres 2015 – die rassistischen Mobilisierungen und Übergriffe sowie der islamistische Terror –, die uns offenbarte, wie sehr wir heute in einer Welt leben, in der die Trennung von hier und dort wohl unumkehrbar aufgehoben ist. Europa ist zur politischen und sozialen Front geworden, weil die Welt nach Europa gekommen ist. Und wir alle sind mittendrin. Eigentlich kein schlechter Ort in dieser Welt ohne Außen.

Revolution? Gesellschaftspolitisch ist es ein Begriff des bürgerlichen Zeitalters. Die französische Revolution hat sich selbst als solche definiert und ihr Versprechen von liberté, égalité und fraternité formte bis in die Gegenwart die Vorstellung ganzer Generationen im Kampf auf den Barrikaden. Und sie ist als Recht auf Widerstand gesetzt. »Das Recht auf Revolution«, schrieb einst Friedrich Engels, »ist ja überhaupt das einzige wirklich ‚historische Recht‘, das einzige worauf alle modernen Staaten ohne Ausnahme beruhen.« Ein zweiter Begriff gehört unmittelbar in diesen Zusammenhang: Krise. Es gibt eine Notwendigkeit von Krisen, also jener historischen Momente, in denen vieles in Frage gestellt wird. Die ganze Weltentwicklung dreht sich seit Jahrzehnten um diesen Punkt.

In den vergangenen Jahren deutete sich nach einer langen Zeit der Stagnation ein neuer Zyklus sozialer Kämpfe an. Was vor fünf Jahren seinen Ausgangspunkt in den Revolten Tunesiens und Ägyptens hatte, setzte eine Dynamik frei, die in ihrer Wirkung bis nach Europa ausstrahlte und dort für viele die Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderungen erfahrbar machte. Die Revolution auf dem Tahrir am 25. Januar 2011 war ein Epochenbruch, der eine neue Wirklichkeit sichtbar machte: Der öffentliche Platz als Ort der Rebellion, auf dem die aufständische Menge die Frage der realen, wirklichen (Räte-)Demokratie stellt. Occupy, die südeuropäischen Platzbesetzungen, die Blockupy-Mobilisierungen - es geht wieder um eine universelle Idee, die das Recht auf ein Leben in Würde gegen die Ungleichheit auf die Tagesordnung gesetzt hat. Die Revolte zündet dort, wo das Nicht-mehr-aushalten-wollen der Stachel im Alltag ist und kollektive Handlungen eine Erfahrung der Freiheit sind. Das war die unmittelbare Wahrheit des Tahrir im Gegensatz zum konsumorientierten Freiheitsbegriff westlicher Gesellschaften. Aber noch bevor das Scheitern des Arabischen Frühlings absehbar wurde, warnten schon viele: Vor den »Islamisten«, den »Flüchtlingsströmen« oder der »Instabilität im Nahen Osten«. Die soziale Revolte als Bedrohung, das feste Gefüge und die Souveränität als Sehnsucht, das sind Haltungen, die weit bis in unsere, die linken Reihen hineinreichen.

Es gibt die dunkle Seite der Macht in der Bewegung der Vielen und einen ihnen eingeschriebenen Antagonismus: Die religiösen Fundamentalismen unserer Zeit, sie bleiben unsere unerbittlichen Feinde, auch in Zeiten und Konstellationen, in denen sie in Feindschaft zur imperialen Ordnung stehen. Nichts hat die Welt in den letzten 15 Jahren so sehr verändert wie die mit dem 11. September 2001 in Gang gesetzte Mobilmachung gegen den islamistischen Terror. Der Ausnahmezustand wurde zur gesellschaftlichen Normalität, »Innen« und »Außen« wurden in der Sicherheitspolitik tendenziell aufgehoben. Der Krieg kehrt zurück und die Militarisierung setzt qualitativ andere Ausgangsbedingungen. Wir erleben es jetzt wieder in Frankreich, wo die autoritäre Strukturierung die Disziplinierung bis in den Alltag fast reibungslos durchgesetzt wird. Dabei gibt die Politik des Ausnahmezustands nicht mehr vor, tatsächlich Angriffe verhindern zu können – es geht allein um das Management der Folgen und der Angst vor der Gewalt. Unsere Anti-Folter-Kampagne zielte auf diese Widersprüche. Und während wir Guantanamo thematisierten, thematisierten wir gleichzeitig, wie sich eine Debatte über die »Notwendigkeit der Folter« mit dem Frankfurter »Fall Daschner« bis in die juristischen Seminare und die Medien ausdehnte. Das Neue war nicht die Tatsache dieser Gewalt, sondern ihre Inszenierung und Befürwortung vor den Augen der Weltöffentlichkeit.

Von »Oben« wird es keine Antwort geben. Menschenrechte und Demokratie können nicht durch imperiale Eingriffe des Westens verwirklicht werden. Die mit der französischen Revolution zusammenhängende Verbindung von Nationalstaat und Menschenrechten war schon mit dem Kolonialismus korrumpiert und allerspätestens im Ersten Weltkrieg obsolet. Diese Katastrophen und besonders die des Nationalsozialismus offenbarten das genaue Gegenteil: Der Staat wurde zur Hauptbedrohung der Menschenrechte. Von Afghanistan über Syrien bis nach Mali: Auf der einen Seite das reagierende Krisenmanagement der NATO-Planungsstäbe, auf der anderen die »große Erzählung« des Dschihadismus.

Woran bisher jedes aktuelle revolutionäre Projekt scheiterte, verwirklicht der sogenannte »Islamische Staat« (IS) scheinbar mühelos: Internationalismus, trügerischer Egalitarismus im Glauben wie im Kampf, dazu eine tatsächliche Attraktivität für viele, die mehr ist als bewaffnet im Geländewagen und die Jungfrauen im Himmel. Das Kalifat wirkt wie ein totalitäres Surrogat eines überkommenen Kommunismus als Sofortprogramm. Jeden Tag verlassen junge Menschen Europa, um sich dem IS anzuschließen und ihren Traum von Macht und Männlichkeit zu verwirklichen oder sich ihnen zu unterwerfen. Doch den Schlüssel zum Verständnis werden wir weniger in der Religionskritik finden als in den Niederlagen und dem Scheitern emanzipatorischer Gesellschaftsentwürfe. Aus diesem Grund hat das Experiment einer kurdischen Kommunalität eine immense Bedeutung für den Nahen Osten wie für die globale Linke. Der wahrhaft revolutionäre Moment der Idee in Rojava liegt nicht nur in ihrer besonderen Form einer Demokratie ohne Grenzen gegen alle Grenzen, sondern in der tatsächlichen Möglichkeit des gesellschaftlichen Ausstiegs aus präfaschistischer Gewalt, ethnischem Terror und Fundamentalismen.

Wo emanzipatorische Kräfte allerdings nicht zur Wirkung kommen, schreitet im gesellschaftlichen Zerfall die reaktionäre Politisierung der Revolte voran. Das gilt für die kriegerische Wende des Arabischen Frühlings gleichermaßen wie für die Ausbreitung des rechten Sektors in allen europäischen Ländern. Hier müssen wir verstehen, dass der Neoliberalismus viel mehr ist als nur eine besondere kapitalistische Wirtschaftsweise. Er ist gleichfalls eine mächtige individuelle Glücksformel aller gegen alle, die uns seit Jahrzehnten sagt, dass es außer den materiellen Dingen auf dieser Welt nichts zu genießen gibt. Das Leben ist mehr. Nach Sinn, Freude und Freiheit zu suchen, ist dem Menschen als soziales Wesen möglich. Hier aber verläuft die unüberwindbare Grenze zum Extremismus des kapitalistischen Warenverhältnisses und zu seinem ideologischen Produkt, das uns allein in den Egoismus treibt. Auch deshalb werden religiöse Fundamentalismen, von denen der islamistische der zur Zeit stärkste ist, zum großen Ausweg aus der zutiefst deprimierenden Alleinsamkeit unserer individualisierten Gesellschaften.

Revolution. Schon lange war ihre Notwendigkeit nicht mehr so greifbar: Von der griechischen Tragödie bis zur syrischen Katastrophe. Von der verlorenen Zukunft in der Ukraine bis zum massenhaften Sterben im Mittelmeer. Von den Zumutungen des digitalen Alltags bis zur nackten Ausbeutung in den Weltmarktfabriken der Peripherie. Von Fukushima bis zum Klimawandel. Die Krise des Systems ist offensichtlich. Im Feuilleton und in Talkshows geistert die Überfälligkeit gesellschaftlicher Veränderung: Wie lange noch? Lassen sich die Probleme überhaupt innerhalb dieses Kreislaufes aus Ware, Geld, Verwertung und Staat lösen? Oder: Wie viele Flüchtlinge verträgt das Land? Schaffen wir das? Die Krise wird zur Form der politischen Verwaltung. Wir erleben eine Politik ohne Politik und eine institutionelle Kaste, deren Handlungen wie von sich selbst getrieben wirken. Eine Politik der Angst, eine niedere Angst vor dem jeweils anderen und die Angst vor dieser Angst wird zum Maßstab gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, durchaus auch bei manchen Linken.

Es ist anmaßend in einem Land wie Deutschland von Revolution zu sprechen. Übermächtig sind die Erfahrungen der historischen Niederlagen. 1848, 1918, 1933, 1989 – 150 Jahre des Scheiterns mit konterrevolutionären Einbrüchen und katastrophalen Konsequenzen. »Eine Geschichte wie aus dem Fleischwolf«, meinte die Stadtguerilla RAF einst im Angesicht der NS-Verbrechen. Nein, es gibt keine Garantie und zur historischen Wahrheit gehört, dass eine emanzipatorische Kraft nicht immer existiert. Aber selbst wenn die Dystopie zur wahrscheinlichsten aller Entwicklungen wird, bleibt keine andere Chance. Eine Auseinandersetzung über den marxschen Begriff der Entfremdung wäre wieder notwendig. Denn es ist die Mühle des 24-Stundentags des Kapitals, in dem alles Markt ist und die alle verrückt werden lässt. Aber das hält uns auch fest, weil es den Überlebenskampf zur Maxime erklärt. Die Erkenntnis: »Wir essen kein Brot, sondern Reklame«, ist heute genauso aktuell und sprengend wie die Orientierung, dass die Aneignung des Lebens der unauflösbare Widerspruch gegen Staat und Kapital ist. Der marxistische Theoretiker Leo Kofler hat es einmal sinngemäß so formuliert: Hinter einem Paar Schuhe im Schaufenster steckt – vermittelt über den Preis - ein soziales Verhältnis. Wert ist ein gesellschaftliches Verhältnis und nicht die Eigenschaft von Dingen. Das große Rätsel des Kapitalismus steckt zugleich im Tauschwert – und in der Langeweile, die durch die Zerstörung des Gebrauchswerts produziert wird. Dass ist das Dominante und alles Durchdringende in unserer Gesellschaft. Die Zeit ist reif für massenhafte und subversive Praxis, die das in Angriff nimmt. Diese Praxis aber täuschte sich selbst fundamental, glaubte sie, letzten Endes ein Idyll zu finden oder wiederzufinden.

Eine dem Hier und Jetzt angemessene Tat braucht eine europäische Kartografie und ist im besten Sinne sozialrevolutionär. Eine radikale gesellschaftliche Linke ist lebendig, wenn sie in ihren Aktionen soziale Heterogenitäten verknüpft und zugleich die Welt niemals mehr aus den Augen lässt. Wirkliche Demokratie wird mehr denn je eine Frage der Gleichheit aller in antagonistischer Gegenmacht. Eine Kraft der Vielen, die nicht nur zeigen werden, wie der Aufstand hier möglich wird, sondern die zugleich eine neue kommunistische Erzählung beginnen. Es geht um diese politische Praxis eines Horizonts in Bewegung. Adelante!

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