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Die Geschichte der Autorin
Wie liest man so ein Buch? Über Irma Nelles Erinnerungen an Rudolf Augstein
Schlagzeilen über geplante Entlassungen beim »Spiegel«. Die nach außen gedrungenen Konflikte zwischen Print und Online. Der Nachhall der Querelen um rasch wechselnde Chefredakteure. Medienkrise, Auflagenverfall. Und dann auch noch die ganze Debatte über die Glaubwürdigkeit der »vierten Gewalt«, über die »Lügenpresse« und die selbst reklamierte Macht von politischen Leithammeljournalisten. Um all das geht es in diesem Buch: nicht.
Irma Nelles: Der Herausgeber. Erinnerungen an Rudolf Augstein.
Aufbau Verlag. 320 S., geb., 22,95 €.
Warum eine solche Vermisstenanzeige dennoch hier an den Anfang gestellt wird? Weil man ein Buch wie »Der Herausgeber« in Zeiten wie diesen wohl mit einer anderen Erwartung in die Hand nimmt, weil es im Kopf immer schon ein von der Zeit und den Umständen geprägtes Raster gibt, dem sich eine Lektüre zu erwehren hat. Schon weil das eine Ungerechtigkeit gegenüber Autoren ist - ein Buch ist kein aktueller Kommentar, ein Buch fällt immer ein bisschen aus der Zeit. Weil die schneller ist als man schreiben kann.
Und dann hat Irma Nelles, die ehemalige Büroleiterin des »Spiegel«-Herausgebers Rudolf Augstein, auch noch gezögert, ihr Manuskript einem Verlag anzubieten. Augstein starb im November 2002. Er erscheint seltsam entfernt, eine Figur, die schon in den letzten Lebensjahren vor allem aus einer Erinnerung an eine andere Vergangenheit bestand: Spiegel-Affäre, Augstein im Gefängnis, Sturmgeschütz der Demokratie, Bundestagskandidatur mit schnellst-denkbarer Mandatsrückgabe nach zehn Wochen. Das war 1972. Der Autor dieser Zeilen hier war noch nicht einmal geboren.
Wie liest man also so ein Buch wie das von Nelles? Mit einer Mischung aus Staunen und Angewidertsein, immer innerlich zerrissen zwischen der Frage, ob es sich bloß um Schilderungen banaler Alltäglichkeiten einer Männer-Macht-Sauf-Kumpel-Medien-Welt handeln mag, und der möglichen Antwort, dass eben genau darin, in diesen Anekdoten und Aberwitzigkeiten etwas liegt, das mehr zum Verständnis der Welt des damaligen »Spiegel« beiträgt, als es alle die Mythen über und die Kritik am Werk und Wirken Augsteins je könnten.
Irma Nelles arbeitete 30 Jahre bei Augstein, für Augstein, mit Augstein. Beschreibt einen Mann, der sich in der erwartbaren Pose herausnimmt, von ihr Sex zu verlangen - der aber darüber nicht einmal normale Worte finden kann, vom »Geschlächtlichen« oder »Entsetzlichen« sprechen muss, das ihm auszuschlagen trotzdem eine Unerhörtheit sei. Nelles schreibt, wie einmal ein Interview mit Chefredakteur Stefan Aust von einer Illustrierten mit den Worten angekündigt wurde, »kein Journalist ist hierzulande mächtiger als er« - und Augstein daraufhin eitel seiner Mitarbeiterin einen Brief »an den mächtigsten Journalisten« diktierte, der per Luftpost an Aust ging, außer eben dieser Luft aber nichts enthielt - worauf der Angeschriebene so untertänig wie dezent süffisant replizierte, »Du bist natürlich der mächtigste, einflussreichste und bedeutendste Journalist Deutschlands und wirst es auch bleiben.«
Augstein kondoliert Franz Josef Strauss - und der Erzfeind bedankt sich höflich. Interessant. Augstein isst Knäckebrot. Augstein macht Sehübungen. Augstein fährt Ballon. Augstein ist gegen die Bombardierung Jugoslawiens - und Nelles solle sich doch wegen anders lautender Meinung über die mörderische Vertreibung in dem zerbrechenden Land besser »bei Joschka Fischer bewerben«. Spiegel-Redakteure verstecken sich, um Augstein aus dem Weg zu gehen. Und so geht es in einem fort.
Aber, und das ist das erste Besondere an diesem Buch: Es ist keine Abrechnung. Da wird nichts hinterhergeworfen. Das ist alles schön aufgeschrieben, streckenweise sogar glänzend. Es ist ein Buch mit persönlichen Erinnerungen. Was es jedoch nicht ist, und das kann man der Autorin nicht vorwerfen, weil es der Verlag in werberischer Absicht auf den Umschlag gedruckt hat: »eine Sittengeschichte der Bundesrepublik und ihrer Medienlandschaft seit den siebziger Jahren«. Dafür hätte es Analyse, Kontextualisierung, ja: eine Art theoretischen Fixpunkt geben müssen.
Hierin liegt die zweite Besonderheit: Wenn man einen Fixpunkt nennen will, ist es die Autorin selbst. Irma Nelles schreibt hier weniger über den »Herausgeber« als über eine Frau, die sich mit einer Sekretärinnen-Stelle im »Spiegel«-Büro in Bonn aus der Umklammerung einer Ehe befreit, in der es dem Mann ein Scheidungsgrund war, dass seine Frau arbeiten geht und so unabhängig wird. Irma Nelles ist mit einer Haltung aus ihrem ersten Leben herausgekommen, die sie im zweiten, dem an der Seite des »Spiegel«-Herausgebers, gut gebrauchen konnte. »Es gibt etwas jenseits von Liebe und Freundschaft«, wird die Regisseurin Sofia Coppola ganz zu Beginn zitiert. Das muss man geben können. Irma Nelles konnte. Rudolf Augstein hat genommen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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