Die Geschichte der Autorin

Wie liest man so ein Buch? Über Irma Nelles Erinnerungen an Rudolf Augstein

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 4 Min.

Schlagzeilen über geplante Entlassungen beim »Spiegel«. Die nach außen gedrungenen Konflikte zwischen Print und Online. Der Nachhall der Querelen um rasch wechselnde Chefredakteure. Medienkrise, Auflagenverfall. Und dann auch noch die ganze Debatte über die Glaubwürdigkeit der »vierten Gewalt«, über die »Lügenpresse« und die selbst reklamierte Macht von politischen Leithammeljournalisten. Um all das geht es in diesem Buch: nicht.


Irma Nelles: Der Herausgeber. Erinnerungen an Rudolf Augstein.
Aufbau Verlag. 320 S., geb., 22,95 €.


Warum eine solche Vermisstenanzeige dennoch hier an den Anfang gestellt wird? Weil man ein Buch wie »Der Herausgeber« in Zeiten wie diesen wohl mit einer anderen Erwartung in die Hand nimmt, weil es im Kopf immer schon ein von der Zeit und den Umständen geprägtes Raster gibt, dem sich eine Lektüre zu erwehren hat. Schon weil das eine Ungerechtigkeit gegenüber Autoren ist - ein Buch ist kein aktueller Kommentar, ein Buch fällt immer ein bisschen aus der Zeit. Weil die schneller ist als man schreiben kann.

Und dann hat Irma Nelles, die ehemalige Büroleiterin des »Spiegel«-Herausgebers Rudolf Augstein, auch noch gezögert, ihr Manuskript einem Verlag anzubieten. Augstein starb im November 2002. Er erscheint seltsam entfernt, eine Figur, die schon in den letzten Lebensjahren vor allem aus einer Erinnerung an eine andere Vergangenheit bestand: Spiegel-Affäre, Augstein im Gefängnis, Sturmgeschütz der Demokratie, Bundestagskandidatur mit schnellst-denkbarer Mandatsrückgabe nach zehn Wochen. Das war 1972. Der Autor dieser Zeilen hier war noch nicht einmal geboren.

Wie liest man also so ein Buch wie das von Nelles? Mit einer Mischung aus Staunen und Angewidertsein, immer innerlich zerrissen zwischen der Frage, ob es sich bloß um Schilderungen banaler Alltäglichkeiten einer Männer-Macht-Sauf-Kumpel-Medien-Welt handeln mag, und der möglichen Antwort, dass eben genau darin, in diesen Anekdoten und Aberwitzigkeiten etwas liegt, das mehr zum Verständnis der Welt des damaligen »Spiegel« beiträgt, als es alle die Mythen über und die Kritik am Werk und Wirken Augsteins je könnten.

Irma Nelles arbeitete 30 Jahre bei Augstein, für Augstein, mit Augstein. Beschreibt einen Mann, der sich in der erwartbaren Pose herausnimmt, von ihr Sex zu verlangen - der aber darüber nicht einmal normale Worte finden kann, vom »Geschlächtlichen« oder »Entsetzlichen« sprechen muss, das ihm auszuschlagen trotzdem eine Unerhörtheit sei. Nelles schreibt, wie einmal ein Interview mit Chefredakteur Stefan Aust von einer Illustrierten mit den Worten angekündigt wurde, »kein Journalist ist hierzulande mächtiger als er« - und Augstein daraufhin eitel seiner Mitarbeiterin einen Brief »an den mächtigsten Journalisten« diktierte, der per Luftpost an Aust ging, außer eben dieser Luft aber nichts enthielt - worauf der Angeschriebene so untertänig wie dezent süffisant replizierte, »Du bist natürlich der mächtigste, einflussreichste und bedeutendste Journalist Deutschlands und wirst es auch bleiben.«

Augstein kondoliert Franz Josef Strauss - und der Erzfeind bedankt sich höflich. Interessant. Augstein isst Knäckebrot. Augstein macht Sehübungen. Augstein fährt Ballon. Augstein ist gegen die Bombardierung Jugoslawiens - und Nelles solle sich doch wegen anders lautender Meinung über die mörderische Vertreibung in dem zerbrechenden Land besser »bei Joschka Fischer bewerben«. Spiegel-Redakteure verstecken sich, um Augstein aus dem Weg zu gehen. Und so geht es in einem fort.

Aber, und das ist das erste Besondere an diesem Buch: Es ist keine Abrechnung. Da wird nichts hinterhergeworfen. Das ist alles schön aufgeschrieben, streckenweise sogar glänzend. Es ist ein Buch mit persönlichen Erinnerungen. Was es jedoch nicht ist, und das kann man der Autorin nicht vorwerfen, weil es der Verlag in werberischer Absicht auf den Umschlag gedruckt hat: »eine Sittengeschichte der Bundesrepublik und ihrer Medienlandschaft seit den siebziger Jahren«. Dafür hätte es Analyse, Kontextualisierung, ja: eine Art theoretischen Fixpunkt geben müssen.

Hierin liegt die zweite Besonderheit: Wenn man einen Fixpunkt nennen will, ist es die Autorin selbst. Irma Nelles schreibt hier weniger über den »Herausgeber« als über eine Frau, die sich mit einer Sekretärinnen-Stelle im »Spiegel«-Büro in Bonn aus der Umklammerung einer Ehe befreit, in der es dem Mann ein Scheidungsgrund war, dass seine Frau arbeiten geht und so unabhängig wird. Irma Nelles ist mit einer Haltung aus ihrem ersten Leben herausgekommen, die sie im zweiten, dem an der Seite des »Spiegel«-Herausgebers, gut gebrauchen konnte. »Es gibt etwas jenseits von Liebe und Freundschaft«, wird die Regisseurin Sofia Coppola ganz zu Beginn zitiert. Das muss man geben können. Irma Nelles konnte. Rudolf Augstein hat genommen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -