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Realismus und Fantasy
David Mitchell: Eine Reise, die 1984 beginnt und 2043 endet
»Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.« - Selten wurde Aristoteles’ Wahrheit so unterhaltsam, spannend, klug und vielseitig belegt wie im jüngsten Werk von David Mitchell. »Die Knochenuhren«, in hervorragender Übersetzung von Volker Oldenburg, ist tatsächlich mehr als »nur ein« Roman. Auf 800 Seiten blättert der fantasiebegabte und schreibstarke Mann aus Lancaster (Jahrgang 1969), der seine Leser bereits gekonnt mit »Der Wolkenatlas« oder »Die tausend Herbste des Jacob de Zoet« in Bann zog, ein Kaleidoskop der Genres auf, das in der jüngeren Literatur Europas seinesgleichen sucht.
David Mitchell: Die Knochenuhren. Roman.
A. d. Engl. v. Volker Oldenburg. Rowohlt. 800 S., geb., 24,95 €.
Eine Reise, die 1984 beginnt und 2043 endet und die von realen und fiktiven Menschen ebenso wie von Fantasiegestalten getragen wird: Zunächst ist da Holly Sykes, ein Mädchen im tristen England der 1980er, mit ihren Eltern - Kneipiers in einer Kleinstadt - und dem genialen kleinen Bruder Jacko, der mit sieben Jahren unerklärlich und unauffindbar verschwindet. Dabei ist Holly diejenige, die von Zuhause fortläuft, um der Einsamkeit und ihren Pubertätsängsten zu entfliehen. Schnell enttäuscht von der ersten »Liebe ihres Lebens«, plant sie mit dem unscheinbaren, pfiffigen Ed Brubeck eine Zukunft, und wird doch von bösen Geistern und dem fehlenden Jacko rüde aus der alternativen Bahn geworfen.
Hollys Geschichte liest sich wie ein moderner Entwicklungsroman für ein junges Publikum. Doch dabei bleibt Mitchell nicht stehen. Weiter geht es, 1991, mit einer peppigen Story aus dem studentischen Milieu einiger englischer Yuppies um den reichen Hugo Lamb und seine Kommilitonen. Ihre Erlebnisse nehmen ein tragisches Ende am Neujahrstag 1992. Der schwelende Streit von Anchoriten und Horologen - Fabelwesen in einer mystischen Wirklichkeit - ist daran nicht unschuldig.
Zeitsprung ins Jahr 2004, in dem Holly Sykes und Ed Brubeck verheiratet sind und eine süße kleine Tochter haben. Ed interessiert sich als berühmter Kriegsreporter mehr für die Konflikte der Welt als für den eigenen Nachwuchs. Afghanistan, Irak ..., wo auch immer CNN und Soldaten sind, fühlt er sich zu Hause. Harmonie kann dieser Ehe kaum beschieden sein. Doch für Trauer bleibt keine Zeit, denn mittlerweile schreiben wir das Jahr 2015 und begleiten den mäßig erfolgreichen Autor Crispin Hershey auf diversen Lesereisen. Neben sympathisch-ironischen Seitenhieben auf die Literaturszene der Welt bringen die Kapitel der Jetztzeit die Wiederbegegnung mit Holly Sykes. Auch sie tingelt von Festival zu Festival, da sie mit einem Buch über die »Radiomenschen« und das Verschwinden ihres Bruders einen Weltbestseller landete.
Hershey ist hin- und hergerissen, zwischen Faszination, Zuneigung und schrecklichem Neid. Bis 2020 nehmen wir an seinem Leben teil. Doch dann ist Schluss mit dem zeitgenössischen, satirischen Roman, und es öffnet sich das Labyrinth der Fantasy-Literatur, die Mitchell ebenso grandios beherrscht, wie den Thriller, mit dem »Die Knochenuhren« 1984 begannen.
2043 geht es zurück in die reale Welt, oder das, was von ihr übrig blieb. In distopischen Szenen und ausnehmend sozialkritisch schildert Mitchell das Leben nach der Apokalypse. Die Menschheit hat es geschafft, die Erde zu zerstören. Ressourcen, Strom, Medikamente, Lebensmittel gibt es nicht mehr oder kaum noch. Irland, wo Holly Sykes jetzt als krebskranke alte Frau den Tod erwartet, muss mit Flüchtlingsströmen aus Portugal und marodierenden, kriminellen Banden fertig werden.
Hier endet die Reise, damit eine andere beginnen kann. Und da die mystischen Wesen weiter existieren, die sich immer wieder in die Leben von Mitchells Protagonisten einmischten -, und die Menschheit mit ihrem selbstzerstörerischen Werk noch nicht fertig ist -, ist zu vermuten, dass Mitchell irgendwann die Fäden weiter spinnen wird, die sich durch dieses großartige Buch ziehen.
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