Spannende Reise durch das 20. Jahrhundert

William Boyd: Erstaunlich, wie ein Mann so ungemein weiblich das Tagebuch einer Frau führt

  • Lilian-Astrid Geese
  • Lesedauer: 2 Min.

Wie viel Fiktion steckt in einer Biografie? Wenn man eine Geschichte oft genug erzählt, hält man sie für wahr, heißt es. Und wer kann sich schon an alles im Leben erinnern? Die schönsten Biografien sind tatsächlich die fiktionalisierten Lebensgeschichten, wie Paula McLains »Madame Hemingway«, Chris Greenhaighs »Coco Chanel und Igor Strawinski« oder T.C. Boyles »Dr. Sex« oder die Romane in Biografieform, in denen es um eine nur in der Fantasie des Autors existierende Person geht.


William Boyd: Die Fotografin. Roman.
A. d. Engl. v. Patricia Klobusiczky u. Ulrike Thiesmeier. Berlin Verlag, 560 S., geb., 24 €.


Eine solche zauberhafte Geschichte blättert der großartige William Boyd auf. Nach seinen zahlreichen Bestsellern - »Ruhelos«, »Einfache Gewitter«, »Nat Tate« und dem James-Bond-Roman »Solo« - widmet er sich nun der schottischen Fotografin Amory Clay. Wie Lysander Rief aus Boyds schöner Love Story »Eine große Zeit«, führt auch Ms. Clay, die spätere Lady Carr, ein bewegtes, kosmopolitisches Leben, an dem sie uns in zeitauthentischen autobiografischen Aufzeichnungen und dem »Barrandale-Journal« von 1977 teilhaben lässt. Geboren 1908 und von ihrem Vater, einem gescheiterten Romancier, zum Sohn erklärt - Amory war damals ein Jungenname -, entdeckt sie früh ihre Liebe zur Fotografie. Und zu den Männern. Dank ihres Onkels, in den sie sich, nichts von seiner Homosexualität ahnend, hoffnungslos verliebt, gelingt ihr ein passabler Karrierestart als Glamourfotografin. Selbstbewusst und mutig erkämpft sie sich dann ihren Platz in den Medien, erlebt als Kriegsreporterin den Zweiten Weltkrieg und Vietnam, taucht in die Berliner Welt der Queers, heiratet einen traumatisierten, erst reichen, dann verarmten britischen Lord (und Trinker), bekommt Zwillinge, gerät in physische und emotionale Gefahren, und genießt das Leben in London, Paris und New York.

»Die vielen Leben der Amory Clay« lautet der Untertitel dieses Romans über das 20. Jahrhundert, und treffender könnte die Wortwahl nicht sein. Boyd illustriert seine facettenreichen und die Spannung eines ebenso ungewöhnlichen wie eigentlich ganz alltäglichen Lebens reflektierenden Memoiren mit alten Fotografien der Menschen und Orte, die Clay im Laufe der Jahre begegnen. Eine schöne Idee und ein besonderes Buch.

Boyd ist ein Erzähler im klassischen Sinn. Jeder Satz, jede Wendung, jede Seite dieses Buches ist ein Genuss. Gehen Sie mit auf eine abenteuerreiche Reise in die Erinnerungen seiner sympathischen Heldin, die nicht zuletzt dadurch faszinieren, dass hier ein männlicher Autor so ungemein weiblich das Tagebuch einer Frau führt.

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