Ein kleines Heft mit Stempeln

In Irmgard Keuns Roman von 1938 spielt das Exil die Hauptrolle

Kully, ein kleines Mädchen von etwa zehn Jahren, macht eine erschütternde Erfahrung: Es kann so brav sein, wie es will, und ist doch, früher oder später, nicht mehr gern gesehen. Denn seine Eltern sind Exilanten ohne Geld. Die Familie lebt in Hotels in den Niederlanden oder Frankreich und Kullys Vater, ein Schriftsteller, der Hitler »nicht leiden« kann, fährt immer wieder weg, um Geld aufzutreiben. »Wir bleiben als Pfand zurück und mein Vater sagt: wir hätten einen höheren Versatzwert als Diamanten und Pelze.« Das ist allerdings gehörig übertrieben.


Irmgard Keun: Kind aller Länder.
Roman. Kiepenheuer & Witsch, 224 S., geb., 17,99 €.


Das Exil spielt die eigentliche Hauptrolle in Irmgard Keuns »Kind aller Länder«. Das leidige und immer präsente Thema Geld, die Schwierigkeiten, von A nach B zu kommen, die Abhängigkeit von Menschen, die Hilfe bieten oder verweigern, die kleinen Umstände, die Glück oder größte Schwierigkeiten bedeuten können.

Man lebt aus Koffern, die zu voll sind, weil man zu viel dabei hat, in denen aber auch immer das wichtigste fehlt, weil es in irgendeinem Pfandhaus lagert. Keine Adresse ist von Dauer, jeder Abschied kann endgültig sein - nicht zuletzt, weil viele Menschen das Exil nicht lange ertragen und in ihrer Verzweiflung den Tod vorziehen.

Für das Kind ist das Exil auch Schulersatz. Es lernt, was andere Kinder nicht verstehen, »dass es tausendmal besser ist, zehn Dollar zu haben als eine Mark«. Es lernt, dass auch unter den Exilierten nicht alle gleich sind: »Einmal sagte mir ein älterer Junge: ›Du bist ja gar keine richtige Emigrantin, ihr seid ja noch nicht mal Juden, ihr seid Luxus-Emigranten.‹«

Kully lernt viele Sprachen - und als erstes immer die Wörter, die man nicht sagen darf. Manch bestechende Weisheit, die sich die Zehnjährige zusammenreimt, ist heute so aktuell wie damals. »Meine Mutter hat mir aus der Bibel vorgelesen. Da steht wohl drin, dass Gott die Welt schuf, aber Grenzen hat er nicht geschaffen.« Oder: »Ein Pass ist ein kleines Heft mit Stempeln und der Beweis, dass man lebt. Wenn man den Pass verliert, ist man für die Welt gestorben.«

Die Situation der Familie, die Irmgard Keun in dem 1938 erstmals erschienenen Roman beschreibt, ist natürlich nicht ohne ihre eigenen Erfahrungen zu denken. Ihre ersten Werke, »Gilgi - eine von uns« (1931) und »Das kunstseidene Mädchen« (1932), machten sie schlagartig bekannt und wurden kurz darauf von den Nationalsozialisten verbrannt. Nachdem Irmgard Keun deshalb - geradezu selbstmörderisch - 1935 beim Landgericht Berlin Schadenersatzansprüche anmeldete und vorübergehend festgenommen wurde, verließ sie das Land und lebte zunächst in Ostende, wo sie mit Joseph Roth zusammenkam. Dass der Verlag Kiepenheuer & Witsch in dem Roman »ein anrührendes Porträt des Paars« sieht, wie es in der Ankündigung der Wiederauflage heißt, verwundert dennoch. Man mag Joseph Roth in dem Vater erkennen, der baden ungesund findet, Tiere und Familienpensionen nicht leiden kann, Paris liebt, das knappe Geld gern in Champagner anlegt und sich am besten mit Barleuten und Matrosen versteht, die noch mehr Alkohol trinken als er selbst.

Doch bleibt die Mutter, genannt Annchen, im Roman blass; sie ist häuslich und vernünftig, will immer für ihren Mann Manuskripte abtippen. »Aber meine Mutter schreibt doch keine Romane«, sagt Kully beinahe entrüstet. Roth und Keun haben dagegen, so beschreibt es auch Volker Weidermann in seinem Nachwort, in der Zeit ihrer Beziehung nicht nur um die Wette geschrieben, sondern auch »unmäßig und selbstzerstörerisch« zusammen getrunken.

Schon den Jugendroman »Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften« (1936) schrieb Keun aus der Sicht eines Kindes. Auch in diesem Werk für Erwachsene vermag sie die Erzählperspektive und den charmanten, vermeintlich naiven Tonfall bis zum Ende durchzuhalten, wenn die Zehnjährige, für die ein Leben mit festem Wohnsitz kaum noch vorstellbar ist, sich erklären lassen muss, was Heimweh ist.

Als sie es versteht, sagt sie: »Manchmal habe ich Heimweh, aber immer nach einem anderen Land, das mir gerade einfällt … Richtiges Heimweh habe ich eigentlich nie. Und wenn mein Vater bei uns ist, schon gar nicht.«

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