Lust an falschen Fährten

Marie Malcovatis virtuoser Roman verbindet Witz mit politischer Relevanz

  • Stefan Kleie
  • Lesedauer: 3 Min.

Der erste Satz ist nach dem Titel so etwas wie die Visitenkarte eines Romans. »Die Kantonspolizei Basel-Stadt hatte Beat Marotti für die Überwachung der Schalterhalle eingeteilt.« Das klingt nach einem typischen Krimi-Plot, wäre da nicht der sprechende Name des Schutzmanns. Ein glücklicher Italoschweizer, der uns durch seine namensgebenden Schrullen nur sympathisch sein kann.


Marie Malcovati: Nach allem, was ich beinahe für dich getan hätte.
Roman. Edition Nautilus. 128 S., geb., 16 €.


Wegen einer harmlosen Fußverletzung zwar nicht völlig dienstuntauglich, ist Marotti doch zur Passivität verdammt. So sitzt er nun vor dem Monitor der Überwachungsanlage, und man könnte an Stasi-Hauptmann Gerd Wiesler aus »Das Leben der Anderen« denken, wenn er zuverlässiger wäre.

Die Schmerztabletten, die er gegen die Verletzung einnehmen muss, bewirken einen wohligen Schwindel. Im Dämmerzustand droht er abzudriften, bis ihn eine Kollegin mit »Eis und Popcorn« wieder ins Leben zurückholt. »Fürs Kino« lautet ihr lakonischer Kommentar. Leider nur in Schwarz-Weiß: ein simpler technischer Defekt, doch passend zu unserem derangierten Helden, denn auch Marotti »fühlte sich schwarz-weiß«. Die Bedrohungslage in der Schalterhalle des Basler Bahnhofs ist überaus diffus. Die Rede ist von »Aktivisten« in »exzentrischer Verkleidung«, die Kaufhäuser verwüsten. Aktuell liegt ein »bunt illustrierter Drohbrief« vor. Der Text wird hier durchsetzt von Adjektiven wie »watteweich«, »gewittrig«, oder »sanft klappernd«, die eine atmosphärische Spannung erzeugen. Im Laufe des Romans wünscht man sich allerdings weniger »katzenhafte Anmut«, »düstere Gassen« oder »schwülheiße Luft«.

Auf einem seiner Monitore erkennt Marotti eine mittelalte Frau, die mit durchgedrücktem Kreuz auf einer Bank sitzend das Alpenpanorama über den Schaltern anstarrt. Die Frau scheint zu weinen; richtig schlau werden wir zunächst nicht aus ihr. Dies gilt auch für einen durchaus wohlgeratenen jungen Mann, der in »einem albernen Kostüm« - Brustharnisch und Sandalen eines römischen Legionärs - verschwitzt und wohl übel riechend neben der geheimnisvollen Unbekannten Platz nimmt. Simon, ein potenzieller »Millionenerbe« (Pharmabranche) ist ein verkrachter Student der Altphilologie, dessen Lebenslauf sich »wie eine unordentliche, zusammenhangslose Liste merkwürdiger Situationen« ausnimmt. Eine Dissertation über »panathenäische Preisamphoren« bleibt ungeschrieben.

Der Wechsel der Erzählperspektive und der permanente Beobachtungsmodus steigern zunächst das gegenseitige Misstrauen der Figuren. Gleichzeitig wird der kriminalistische Plot durch Traumsequenzen und Erinnerungsschübe unterlaufen, die Figuren bekommen ein Eigenleben. Sie bleiben rätselhaft, weil sie sich dem neoliberalen Paradox von Anpassungsdruck und Authentizitätsgebot entziehen - Lucy ist die geheimnisvolle Unbekannte, die »unfähig war, Tränenflüssigkeit zu produzieren«. Lucy und Simon, Geschäftsfrau und Taugenichts, die scheinbaren Gegensätze auf der Wartebank, haben damit auch etwas gemeinsam; aus Marottis Kriminologensicht (hoffentlich) etwas Konspiratives.

Damit wird der Roman zu einer aktuellen Parabel über das Verhältnis von gesellschaftlicher Normierung und Paranoia. Aber eben nicht nur, denn es ist auch ein Roman der »langsamen Heimkehr« (Peter Handke), ein Roman zwischen europäischem Zentrum und Peripherie; Flüchtlingselend spielt eine Rolle, Obdachlosigkeit, die Mafia in Neapel. Zu viel der Politik auf etwas über 120 Seiten?

Manchmal reicht ja schon das kleine Glück einer gelungenen Begegnung. Lucy ist von Beruf Simultandolmetscherin und Beat Marotti hat eine bezaubernde Nichte namens Giulia, von Beruf Schauspielerin. Mit ihr kippt die »Big Brother«-Szenerie endgültig ins Karnevalesk-Slapstickhafte. Großes Finale, Ende offen.

PS: Der von Maja Bechert sorgfältig gestaltete Umschlag mit der markanten Schweizer Bahnhofsuhr zeigt keineswegs einen Ausschnitt aus dem monumentalen Wandbild im Basler Bahnhof SBB. Das Alpenidyll ist einer anonymen Postkarte entnommen, die überdeutlichen Risse wurden nachträglich von der Graphikerin hineinmontiert.

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