Die Widersprüche der Welt

Walter Kaufmann spielt alle Register eines großen Reporters aus

  • Christel Berger
  • Lesedauer: 3 Min.

Der fünfzehnjährige Walter Kaufmann musste sich im Internat im englischen Exil einem Schülergericht stellen. Man bezichtigte ihn der Lüge, weil er behauptet hatte, in Kalkutta gewesen zu sein. Auch wenn er noch so viel vom besonderen indischen Kolorit erzählte, sie glaubten ihm zu Recht nicht. Trotzig wehrte sich der reiselustige Junge, um am Ende zu triumphieren: »Eines Tages gibt’s kein Land, das ich nicht kenne!«


Walter Kaufmann: Meine Sehnsucht ist noch unterwegs. Ein Leben auf Reisen.
Verlag Neues Leben, 254 S., 14,99 €.


Die Episode steht am Anfang des neuen Buches von Walter Kaufmann. Er ist inzwischen ja 92, und die Sehnsucht nach anderen Ländern, Menschen, Landschaften steckt noch immer in ihm. Wenn neue Reisen in große Fernen nicht mehr so häufig sind, lebt doch die Erinnerung umso kräftiger. Kalkutta, Japan, Israel, Irland, USA - nicht nur einmal war er dort und hat immer Berichtenswertes mitgebracht. Hat seinen Weg unterbrochen, um Unbekanntes zu sehen, ist fremden Leuten gefolgt, um sie kennenzulernen. Seine Neugier hat ihn getrieben. Lieber verpasst er ein Konzert mit Swjatoslaw Richter in der Carnegie Hall, um nachts zu erleben, wie ein Richter im Minutentakt über Gestrandete Urteile fällt. Danach trifft er sich mit einer schönen Frau in einem Palmengarten des Hotels Plaza. Sie engagiert sich gegen die Ungerechtigkeit ihrer Welt, in der sie - ein Aschenbrödel der New Yorker East Side - einen Millionär heiratete und nun Gutes zu tun versucht.

Das sind so Schicksale für einen Menschensammler und Reporter wie Walter Kaufmann. Er findet immer neue Typen, die ihm die Welt erschließen und sein Bild von der Welt bestätigen und ergänzen. Diese Welt, die der frühere Exilant, Seemann, Schriftsteller, Fotograf, Gewerkschaftsfunktionär und Weltenbummler erlebte, ist bunt. »Es gibt keinen gemeinsamen Nenner ..., nur Widersprüche.« Diese Welt ist ungerecht, lebt von der Sehnsucht nach Veränderung. Der Schwarze am Straßenrand, der an die bessere Zukunft seiner Kinder glaubt. Der Hippie, der mit Liebe und Blumen alles zum Guten wenden will. Der stolze Geiger im Rollstuhl. Der Vater, der seinen Sohn im Libanon-Krieg verlor. Der Schwindler. Die Teilnehmer am Marsch der Armen, die sich von Stinkbomben im Quartier nicht abhalten lassen ... Kaufmann wiederholt und verknappt einige Begebenheiten aus früheren Reportagen, erzählt Neues und komponiert mit großer Sorgfalt und Können ein Bild der letzten Jahrzehnte. Er gibt der Stimmung in Israel eine andere Note als der Hektik in Manhattan. Er findet in Japan nach Jahrzehnten das Schicksal eines früheren Genossen, der einst Stalin verehrte und später dessen Opfer wurde. Er spielt alle Register eines großen Reporters aus, lässt seine Protagonisten monologisieren oder miteinander streiten. Er versteckt sich selbst hinter den Ereignissen und tritt an anderer Stelle deutlich hervor. Er zitiert Pressestimmen. Er widmet sich der Landschaft und dem Wetter, und immer neue Schicksale vervollständigen sein Bild. Er hat seinem Versprechen während des Schülertribunals Wort gehalten, er hat die Welt gesehen und lässt uns teilhaben.

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