Auch Denken will gelernt sein
Anders als etwa in Frankreich ist in Deutschland Philosophie bis heute kein ordentliches Schulfach. Dabei können sich schon Grundschüler mit philosophischen Fragen beschäftigen
Kinder fragen gern und viel: Wie ist die Welt entstanden? Existieren die Dinge auch, wenn ich nicht hinschaue? Was passiert nach dem Tod? Haben Tiere eine Seele? Wie kommen die Gedanken in meinen Kopf?
Vielen Eltern fehlt schlicht die Geduld und manchen auch das Wissen, um solche Fragen zu beantworten. »Das verstehst du noch nicht, das erklär’ ich dir später«, lautet ein beliebter Spruch, mit dem Eltern die Neugier ihrer Sprösslinge zu zügeln versuchen. Auch in der Schule werden philosophische Fragen eher am Rande behandelt oder, mit entsprechender Absicht, im Religionsunterricht.
Es ist daher gut möglich, dass in Deutschland jemand das Abitur ablegt, ohne je einen Blick in eines der großen Werke der Philosophie geworfen zu haben - weder in Kants »Kritik der reinen Vernunft« noch in Feuerbachs »Das Wesen des Christentums« oder in Nietzsches »Jenseits von Gut und Böse«. Überhaupt gilt das gedruckte Wort in der »Generation Facebook« als Auslaufmodell. Sich in philosophische Bücher zu vertiefen, hat für viele Jugendliche ungefähr denselben Charme wie das Schreiben von Briefen, nämlich gar keinen. Andere glauben, dass Philosophie nur eine abgehobene Beschäftigung mit Fragen sei, die sich ansonsten kein normaler Mensch stellen würde.
Nicht überall auf der Welt denkt man so. In Frankreich zum Beispiel genießt die Philosophie in der Öffentlichkeit eine hohe Wertschätzung und selbst im Fernsehen werden philosophische Fragen auf hohem Niveau erörtert. Hierzulande erhält gegebenenfalls der smarte Richard David Precht zu später Stunde die Gelegenheit, in seinen TV-Gesprächen mit prominenten Zeitgenossen auch über Metaphysisches zu fabulieren. Eine solche Entwicklung sei angesichts der großen philosophischen Tradition der Deutschen absurd, meint der französische Philosoph Raphaël Enthoven, der sich in einem Interview mit der Zeitschrift »Cicero« auch verwundert darüber zeigte, dass es in Deutschland kein ordentliches Schulfach Philosophie gibt. »Philosophie ist ein fundamentales Menschenrecht. Ich verstehe nicht, warum das nicht in der Schule gewährt wird. Ich habe Mitleid mit euch!«
Immerhin gibt es in Deutschland Ethikunterricht. Dieser wurde bereits in der alten Bundesrepublik eingeführt, um Schülern, die nicht das Fach Religion belegten, eine, wie es recht anmaßend hieß, vergleichbare Werteerziehung zukommen zu lassen. Je nach Bundesland ist der Ethikunterricht heute entweder als Ersatzfach für Religion, als Wahlpflichtfach oder wie in Berlin als ordentliches Lehrfach konzipiert. Seit Jahren wird von Eltern und Pädagogen allerdings beklagt, dass an vielen Schulen der Ethikunterricht nicht stattfinde oder von fachfremden Lehrern übernommen werde. Auch die Begeisterung der Schüler lässt mitunter zu wünschen übrig, und manche kämpfen, wie man im Netz erfährt, im »Laberfach Ethik« permanent mit dem Schlaf.
Als Teildisziplin der Philosophie beschäftigt sich die Ethik vorrangig mit den Voraussetzungen menschlichen Handelns und dessen Bewertung. Zwar können dabei auch allgemeine philosophische Fragen diskutiert werden, als Ersatz für einen regulären Philosophieunterricht taugt das jedoch nicht. Denn zu dessen wichtigsten Aufgabe gehöre es, so der französische Didaktiker Michel Tozzi, junge Menschen in die Geschichte des philosophischen Denkens einzuführen und sie zu ermutigen, eigene philosophische Vorstellungen zu entwickeln.
Erfahrungen hierzu gibt es auch in Deutschland. In einigen Bundesländern ist Philosophie ein Wahl(pflicht)fach in der Sekundarstufe sowie Gegenstand der Abiturprüfung. Ein europaweit einzigartiges Projekt wurde in den 1990er Jahren in Mecklenburg-Vorpommern gestartet. Seitdem steht dort bereits ab der ersten Klasse das Fach »Philosophieren mit Kindern« als Ersatz für das Fach Religion auf dem Lehrplan. »Im Philosophieunterricht gewinnen Kinder und Jugendliche Zutrauen zu ihrem eigenen Denken und Freude daran, die Tragweite ihrer Gedanken und Vorstellungen in verschiedenen Situationen zu erproben«, heißt es zur Begründung. Vielen Schülern kommen die hierbei erworbenen Kompetenzen sowohl in anderen Fächern als auch im Alltag zugute. Das gilt für die Fähigkeit zur Selbstreflexion mitunter ebenso wie für den Umgang mit Auffassungen, die man selber nicht teilt.
Kontrovers diskutiert wird nach wie vor die Frage, ob Grundschüler überhaupt in der Lage sind, sich in eine so komplizierte Materie wie die Philosophie hineinzudenken. Jean Piaget, der Urvater der kognitiven Entwicklungspsychologie, hielt das schlicht für ausgeschlossen. Da Kinder erst mit etwa zwölf Jahren formale geistige Operationen ausführen könnten, behauptete er, sei es sinnvoll, ihnen erst ab diesem Alter die Fähigkeit zum logisch-systematischen Denken zuzusprechen. Der 2011 verstorbene US-Philosoph Gareth Matthews widersprach dem entschieden und wies darauf hin, dass Fünf- bis Siebenjährige viel häufiger philosophische Fragen stellten als Elf- und Zwölfjährige. Was auf den ersten Blick paradox anmutet, erklärte Matthews so: »Kleinere Kinder haben nur selten Hemmungen, ihre Neugier frei zu artikulieren. Jugendliche sind indes von den Erwachsenen bereits entmutigt worden, so viele ›unnütze‹ Fragen überhaupt zu stellen.« Drastischer noch formuliert es der Berliner Pädagogikprofessor Hans-Ludwig Freese: »Es ist bisweilen beängstigend, wie früh manche Kinder dem Konformismus im Denken und Fühlen verfallen, Staunen und Fragen verlernen und selbstständiges Denken scheuen.«
Manche Verfechter eines frühen Philosophieunterrichts sehen in Kindern gar so etwas wie »kleine Philosophen«. Das ist sicherlich übertrieben, aber selbst der große deutsche Existenzphilosoph Karl Jaspers war angetan von der Ursprünglichkeit und Unbefangenheit des kindlichen Denkens: »Nicht selten hört man aus Kindermund, was dem Sinne nach unmittelbar in die Tiefe des Philosophierens geht.«
Nun wird gewiss niemand verlangen, dass man bereits Grundschüler mit Texten von Platon, Aristoteles oder Kant traktiert. Im Mittelpunkt des frühen Philosophieunterrichts sollten vielmehr Gespräche über Themen stehen, die den meisten Schülern aus ihrem eigenen Lebensumfeld vertraut sind. In höheren Klassen könnten die dabei gewonnenen Erkenntnisse systematisch und begrifflich vertieft werden, natürlich nur unter der Voraussetzung, dass der Lehrplan hierfür ausreichend Gelegenheit bietet.
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