Belgiens falscher Sündenbock

Haben Polizei und Geheimdienste bei Terrorabwehr versagt? Experte: Komplizierte Struktur des Landes wird zu Unrecht verantwortlich für Pannen der Behörden gemacht

  • Kay Wagner, Brüssel
  • Lesedauer: 4 Min.

Die belgischen Medien nennen es »Belgium Bashing« - Herumhacken auf Belgien. Nach den Anschlägen von Paris und der Erkenntnis, dass sich in der Brüsseler Stadtgemeinde Molenbeek vor den Augen von Polizei, Politikern und Behörden gleichsam das europäische Zentrum der gewaltbereiten Dschihadisten bilden konnte, lief es auf Hochtouren. Zu lax sei der belgische Staat mit der schwelenden Terrorgefahr umgegangen, habe nichts für Integration getan, seien Informationen nicht richtig weitergeleitet worden. Die Aufteilung des Stadtgebiets von Brüssel in sechs unterschiedliche Polizeidistrikte wurde als Beispiel genannt, das jedem einleuchtete. Sechs Bezirke für eine Stadt, da könne die eine Hand ja gar nicht wissen, was die andere tut.

Nach den Anschlägen von Brüssel findet jetzt wieder »Belgium Bashing« statt. Mit ähnlichen Argumenten: Zu komplizierte politische Staatsstrukturen und vielfältige Zuständigkeiten hätten ein zielstrebiges Handeln des Geheimdienstes und der Polizei verhindert. Diesmal befeuern die belgischen Medien die Diskussion sogar selbst. Zahlreich sind die Zeitungskommentare, die eine Stärkung der bundesstaatlichen Kompetenzen fordern. »Die Handlungsfähigkeit der Bundespolitiker ist nicht mehr gegeben«, schrieb zum Beispiel der bürgerliche »De Standaard«. »Zu viele andere politische Ebenen mit ihren über die Jahre hinweg erstrittenen Kompetenzen hindern sie daran«, so die Zeitung.

»Auf den ersten Blick scheint das eine einleuchtende Erklärung zu sein, die auch oft stimmt«, sagt dazu Christian Behrendt, Verfassungsrechtler an der Universität Lüttich, im Gespräch mit »nd«. Belgien sei - genau wie Deutschland - ein Bundesstaat. Das heißt, dass es Zuständigkeiten auf der Bundesebene gibt und Zuständigkeiten in den Regionen. Von denen gibt es in Belgien drei: Die Wallonie im Süden des Landes, wo die meisten Menschen Französisch sprechen, Flandern im Norden mit Niederländisch als Sprache, und fast in der Mitte die Hauptstadtregion Brüssel mit beiden Sprachen. Jede Region hat ihr eigenes Regionalparlament.

Eigene Parlamente mit eigenen Befugnissen, zum Beispiel für Schulbildung, haben auch die Sprachgemeinschaften. Auch hier gibt es drei: die flämische, französische und die kleine deutschsprachige Gemeinschaft im Osten des Landes. Führt das in den Regionen Flandern und Wallonie kaum zu Problemen, weil die Regionen gleichsam deckungsgleich mit der betroffenen Sprachengruppe sind, so ist es schwieriger in Brüssel. Denn in Brüssel gelten für die niederländisch-sprachigen Bewohner die Beschlüsse der flämischen Gemeinschaft, für die frankophonen die Beschlüsse der französischen Gemeinschaft. Flämisch- und französischsprachige Kinder zum Beispiel folgen unterschiedlichen Lehrplänen in der Schule.

Zudem findet in Belgien seit Jahrzehnten ein Gerangel um Zuständigkeiten statt mit der Tendenz, immer mehr Zuständigkeiten von der Bundes- auf die Regional- oder Gemeinschaftsebene zu übertragen. Gerade das reiche Flandern drängt darauf. Flämische und französischsprachige Parteien streiten sich zudem um das Sagen in der Hauptstadtregion Brüssel. Jeder will einen Teil vom Kuchen der Macht. Gefördert wird das durch die zersplitterte Parteienlandschaft. Für jede Sprachengruppe gibt es Sozial- und Christdemokraten, Liberale, Grüne und so weiter, die jeweils nur in der eigenen Sprachgruppe gewählt werden können. Auch bei Bundeswahlen treten sie zumeist als eigenständige Parteien an. So kann es kommen, dass die flämischen Christdemokraten der CD&V an der derzeitigen Bundesregierung beteiligt sind, die französischsprachige Schwesterpartei der CDH aber in der Opposition sitzt.

»Dass wir einen zu komplexen Staatsaufbau haben, ist wahrscheinlich richtig«, wiederholt entsprechend Behrendt. Doch in der aktuellen Diskussion um ein mögliches Versagen Belgiens bei der Anti-Terrorbekämpfung könne die Staatsstruktur nicht als Argument dienen. Denn anders als zum Beispiel in Deutschland lägen die Zuständigkeiten für Polizei und Justiz in Belgien komplett bei der Bundesregierung. »Auch der belgische Lokalpolizist ist ein Bundesbeamter«, sagt Behrendt. Alle Richter im Lande seien Bundesrichter. »In Deutschland müssen Sie in der Regel erst einmal eine Reihe von Instanzen durchlaufen, um an einen Bundesrichter zu gelangen«, vergleicht Behrendt.

Es gibt also gar nicht die vielen Instanzen und aufgesplitterten Zuständigkeiten, die auf dem Feld der Terrorbekämpfung ein konsequentes Durchgreifen von Polizei und Justiz hätten verhindern können. In anderen Bereichen sehr wohl - aber gerade bei diesen beiden nicht. Warum dann aber dieser Vorwurf? Laut Behrendt sei das ein nicht ungewöhnliches Phänomen. »Es ist ja oft so, dass, wenn irgendwas schiefläuft, man gerne schnell Gründe sucht, die einleuchtend erscheinen, weil sie in anderen Bereichen ja auch zutreffen«, sagt er. Und weil sie so einleuchtend seien, mache sich zunächst keiner die Mühe, richtig nachzuschauen.

Wen oder was trifft dann die Schuld an den Pannen in Belgien? Behrendt will dazu keine klare Aussage machen. Das werde der parlamentarische Untersuchungsausschuss jetzt zu klären haben, sagt er. Nach den Brüsseler Anschlägen hat jetzt auch die Regierung ihre Einwilligung gegeben, einen solchen Ausschuss einzurichten.

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