Ein bisschen Forschung

Wie ist der Stand der Friedenswissenschaften in Deutschland und den USA? Eine Bestandsaufnahme

  • Volker Franke und Lina Tuschling
  • Lesedauer: 8 Min.
Die deutsche Friedensforschung habe den internationalen Standard noch nicht erreicht, befand 1972 der »Spiegel«. Heute steht sie deutlich besser da, hinkt aber immer noch der US-Forschung hinterher. Eine Bilanz.

Friedensforschung wird häufig als der Teil der Konfliktforschung eingestuft, der die Grundlagen für einen dauerhaften Frieden analysiert. Dazu werden die unterschiedlichen Interessen, Bedürfnisse und Forderungen der involvierten Staaten, Gruppen oder Individuen gegeneinander abgewogen und politische Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt, die einen nachhaltigen Frieden, den Schutz von Menschenrechten und manchmal auch die Überwindung von Unterentwicklung ermöglichen.

Dieser Einstufung liegt jedoch die Annahme zugrunde, dass Unfrieden - im extremsten Falle Krieg - die Norm, Frieden hingegen die Ausnahme ist. Denn sonst wäre ja umgekehrt die Konfliktforschung Teil der Friedensforschung. Friedensforschung wird in der Regel interdisziplinär und handlungsorientiert betrieben, etwa von Historikern, Anthropologen, Soziologen, Psychologen, Politologen, Wirtschaftswissenschaftlern und Naturwissenschaftlern, um der Forderung nach Frieden nicht nur akademisch, sondern auch pragmatisch und praxisrelevant gerecht werden zu können.

Die AutorInnen

Friedensbewegte Menschen nutzen zur Information und Diskussion häufig Texte oder Konzepte, die das Ergebnis langen wissenschaftlichen Forschens und Nachdenkens sind. Auch PolitikerInnen greifen die Expertise von Friedens- und KonfliktforscherInnen auf. Darüber, was Friedens- und Konfliktforschung eigentlich ist und tut, ist hingegen nur wenig zu hören. Deshalb widmet die Zeitschrift »Wissenschaft & Frieden« in ihrer aktuellen Ausgabe dem Thema einen Schwerpunkt – unter anderem mit Texten zu Stand und Perspektiven der Friedensforschung von Beatrix Austin, Konstanze Jüngling, Mathias Krams, Götz Neuneck, Lisa Bogerts, Stefan Böschen und Christoph Weller.

Aus der Innenperspektive erscheinen die gewohnten Strukturen und Inhalte eines wissenschaftlichen Feldes oft selbstverständlich und alternativlos. Dies mag auch für unsere Sicht auf die deutsche Friedensforschung zutreffen, so dass Besonderheiten, durch die sie sich von der Friedensforschung in anderen Ländern unterscheidet, möglicherweise zu wenig Beachtung erfahren. Diesem Manko versucht der nebenstehende Artikel, eine leicht gekürzte Fassung aus »Wissenschaft & Frieden«, mit einem Vergleich aus Sicht der US-amerikanischen Friedensforschung abzuhelfen. Die beiden AutorInnen nehmen dabei eine informierte Außenperspektive ein: Beide sind als ForscherInnen in den USA verankert, haben aber im Laufe von Studium bzw. wissenschaftlicher Arbeit Erfahrungen in der deutschen Friedensforschung gesammelt. Dr. Volker Franke ist Professor für Konfliktmanagement an der Kennesaw State University in der Nähe von Atlanta/Georgia, USA. Lina Tuschling ist Doktorandin in International Conflict Management an der Kennesaw State University.
Mehr Informationen über »Wissenschaft & Frieden« sowie über Bezugsmöglichkeiten finden Sie im Internet unter www.wissenschaft-und-frieden.de

Vor über 40 Jahren konstatierte »Der Spiegel«, »dass die deutsche Friedensforschung trotz erheblicher Anstrengungen […] noch immer den internationalen Standard nicht erreicht hat. Zumal die amerikanische Friedensforschung der deutschen weit voraus ist, nicht zuletzt wegen der in den USA bevorzugten analytischen Methoden.« [sic!]

Wie sieht es mit dieser recht düsteren Einschätzung heute aus, da die deutsche Friedensforschung ihren Kinderschuhen entwachsen sein sollte? Friedensforschung zielt auf einen positiven Frieden, was nach Johan Galtung (1971) nicht nur die Abwesenheit von Krieg an sich, sondern auch von direkter und struktureller Gewalt bedeutet. Sicherheitsstudien bedienen sich typischerweise der einen oder anderen Variante der realistischen Theorie der Internationalen Beziehungen und ihrer gedanklichen Ableger. Sie nehmen daher standardmäßig die Sicht eines spezifischen Akteurs ein, zumeist die des Staates. Da staatliche Entscheidungen zumeist reaktiv sind, das heißt in der Regel auf vorangegangene Ereignisse antworten oder ähnlichen Auswirkungen zukünftig präventiv vorbeugen wollen, basieren Entscheidungsprozesse fast zwangsläufig auf dem Streben nach einem negativen Frieden. Dieser Tatbestand spiegelt sich in der Finanzierung friedenswissenschaftlicher Studien wider.

In Deutschland, wesentlich mehr noch als in den USA, sind die Regierung selbst oder regierungsnahe Institutionen typische Auftrag- und Arbeitgeber für friedens- bzw. sicherheitsrelevante Studien. Dies erklärt sicherlich zum Teil, warum viele Studien den Erhalt oder die Herbeiführung von negativem Frieden - auch unter Einsatz militärischer Mittel, jedenfalls aber mit dem Staat als primärem Handlungsträger - in den Mittelpunkt rücken. Dies spiegelt sich nicht nur in den Themen der »Friedensgutachten« der letzten Jahre wider, sondern auch in den aktuellen Forschungsprogrammen, beispielsweise der Stiftung Wissenschaft und Politik, der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung oder des German Institute for Global and Area Studies in Hamburg.

Während in Deutschland Friedens- und Sicherheitsforschung dennoch recht eng miteinander verwoben sind, wie die Beispiele des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg oder des Internationalen Konversionszentrums in Bonn zeigen, sind beide Bereiche in den USA traditionell stärker getrennt. Dies lässt sich zum einen auf die Schwerpunktsetzung während des Kalten Krieges zurückführen, waren damals doch die Aufgabenbereiche der beiden Felder deutlich unterschiedlich definiert: Sicherheitsforschung beschäftigte sich fast ausschließlich mit militärischen Überlegungen und der Messung von Waffenkapazitäten, während die Friedensforschung auf Dialog und Diplomatie sowie auf den Versuch ausgerichtet war, über die Mitgliedschaft der staatlichen Konfliktparteien in internationalen Regimen Frieden zu institutionalisieren.

Obgleich deutsche Forschungseinrichtungen traditionell beide Ansätze voranzutreiben suchen - vielleicht auch, weil man wegen der besseren Finanzierungsmöglichkeiten von sicherheitspolitischen Studien Friedensforschung oft nur als Nebenprodukt »mitbetreiben « kann -, stehen in Deutschland sicherheitspolitische Forschungsansätze oftmals im Vordergrund.

In den USA ist die Diversität an privaten sicherheits- und friedenspolitischen Zentren sowie Studienprogrammen deutlich größer. Die traditionelle Friedensforschung hat hier ihren Ursprung im nichtstaatlichen Bereich und ist insbesondere an kirchennahen und privaten Universitäten und Colleges angesiedelt. Neben theologischen und philosophischen Aspekten werden in diesen Einrichtungen u.a. auch die Möglichkeiten gewaltlosen sozialen und politischen Wandels und strategische Friedensprozessarbeit wissenschaftlich analysiert. Gleichzeitig bringen diese Einrichtungen ihre Forschungsergebnisse unter anwendungsorientierten Gesichtspunkten in eine praxisrelevante Ausbildung ein.

Mit dem Ende des Kalten Krieges und einer zunehmenden Fokussierung auf nachhaltige friedensschaffende Maßnahmen nach Bürgerkriegen und internen Gewaltkonflikten verwischte die Abgrenzung zwischen Friedens- und Sicherheitsforschung auch in den USA. Die beiden Bereiche wurden um neue, praxisorientierte Felder, wie Conflict Management und Conflict Resolution, ergänzt. Trotz der immer deutlicher werdenden Notwendigkeit, nachhaltige Lösungen durch umfassende Friedensarbeit zu finden, bleibt die Annäherung der beiden Felder jedoch ein langwieriger und schwieriger Prozess. Die Kluft zwischen Friedensforschung und Sicherheitsstudien ist weiterhin größer als in Deutschland. Ein Blick in das jährlich von fünf deutschen Friedensforschungsinstituten herausgegebene »Friedensgutachten« verdeutlicht das enge Verhältnis zwischen Friedensforschung und Sicherheitsstudien in Deutschland. Das »Friedensgutachten 2015« beispielsweise geht der Frage nach, wie eine verantwortungsbewusste deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, die dem Frieden dient, mit Blick auf gegenwärtige Krisen und Kriege sowie regionale Herausforderungen (Beispiel Ebola in Westafrika) praktisch und normativ auszugestalten ist. Hier kommen Friedens- und Sicherheitsforscher zusammen, um gemeinsam Strategien für die deutsche Politik auf internationaler Ebene zu diskutieren. Ein solches Zusammentreffen von Experten zu Fragestellungen von militärischen Einsätzen und neuen Sicherheitsbedrohungen, wie dem »Islamischen Staat«, bis hin zu nicht-traditionellen Sicherheitsthemen, wie Geschlechtergerechtigkeit und Entwicklungszusammenarbeit, findet man vereinzelt zwar auch in den USA, allerdings nicht in einem regelmäßigen und institutionell verankerten Rahmen. Wo also in Deutschland bewusst Raum für interdisziplinären Austausch geschaffen wird, trifft man in den USA noch häufig auf getrennte Welten.

In einem weiteren Aspekt unterscheidet sich die deutsche Friedenswissenschaft deutlich von der US-amerikanischen: in punkto staatlicher und privater Drittmittelförderung. Die Deutsche Stiftung Friedensforschung stellt zur Finanzierung von Großprojekten bis zu 175 000 Euro und für Kleinprojekte bis zu 20 000 Euro zur Verfügung - bei einer jährlichen Gesamtförderung von deutlich unter einer Million Euro. Hingegen erhielt allein das vom US-Kongress finanzierte Institute of Peace im Jahr 2014 Fördermittel in Höhe von 37 Millionen US-Dollar; im Jahr 2015 waren es 35,3 Millionen US-Dollar. Das Institut ist in einem brandneuen und architektonisch herausstechenden Nobelbau im Herzen der Hauptstadt Washington angesiedelt und beschäftigt derzeit mehr als 300 Mitarbeiter. Hinzu kommen Think-Tanks wie die Brookings Institution, das Center for Strategic and International Studies oder das Carnegie Endowment for International Peace sowie eine Vielzahl äußerst finanzkräftiger Stiftungen, wie Ford, Mellon, MacArthur oder Gates, die Forschungsprojekte an der Schnittstelle zwischen Frieden, Sicherheit und Entwicklung unterstützen.

Von der US-Regierung werden sicherheitsrelevante Forschungsprojekte in deutlich größerem Ausmaß als in Deutschland direkt finanziert. So wurden beispielsweise 2008 vom amerikanischen Verteidigungsministerium im Rahmen seiner »Minerva Initiative« 50 Millionen US-Dollar Fördergelder bereit gestellt. Von solchen Fördermitteln wie auch von der Vielfalt förderungswürdiger Themen können deutsche Friedenswissenschaftler nur träumen. Da sind bessere Kommunikation und engere Zusammenarbeit von Friedens-, Konflikt- und Sicherheitsforschern nur ein schwacher Trost.

Thematisch nehmen die Herausforderungen für die Friedensforschung an Komplexität zu. Seit Ende des Kalten Krieges wurde der Begriff »Sicherheit« neu definiert und um Schnittstellenbegriffe, wie »Sicherheitssektorreform«, »menschliche Sicherheit« oder »nachhaltige Entwicklung«, erweitert. Sicherheitsstudien beschäftigen sich heute nicht mehr nur mit militärischen Aspekten, sondern auch mit Sachverhalten, die einen positiven Frieden stärken und fordern. Menschenrechte sind längst ein wichtiges Thema für Friedens- wie für Sicherheitsforscher. Umweltschutz, Klimawandel oder Ernährungssicherheit sind zu akzeptierten Friedensforschungsbereichen herangereift, ebenso die Rolle von Nichtregierungsorganisationen und der Wiederaufbau sozialer und politischer Infrastrukturen nach Konflikten.

Dies ist eine logische Folge der Globalisierung, die zur stetigen Verminderung der Souveränität von Staaten und zum zunehmenden Einfluss neuer Akteure führt. Auch stellt die rasende »Überjüngung« der ärmeren Weltgesellschaft ein Entwicklungs- und Sicherheitsproblem mit zunehmender Tragweite dar. In vielen Post-Konfliktländern des Globalen Südens ist knapp die Hälfte der Bevölkerung unter 15 Jahre alt, und das bei noch immer erschreckend niedrigem Bildungs-, Gesundheits- und Einkommensstand (Weltbank 2015). In dieser Dynamik besteht das vielleicht größte Konfliktpotenzial der Zukunft. Hier muss nicht nur im Sinne des negativen Friedens an der Verhinderung der Kriseneskalation gearbeitet werden, sondern Friedens- und Sicherheitsforscher in Deutschland wie in den USA sind gefordert, gemeinsam Ansätze zu erarbeiten, die den Ärmsten und Ausgegrenzten Hoffnung auf ein besseres, friedvolles Leben geben, ganz im Sinne eines von Johan Galtung propagierten positiven Friedens.

Wie sieht es also aus mit der Friedensforschung in Deutschland im Vergleich zu den Vereinigten Staaten? Frieden, Sicherheit und Entwicklung gehören zusammen, wenn nachhaltig Konflikte gelöst und friedvolle Strukturen geschaffen werden sollen. Die Bedrohungen für den Frieden sind global, massiv und vielschichtig. Deshalb müssen die Lösungsvorschläge interdisziplinär, unprätentiös und anwendungsorientiert sein. Obwohl der Friedensforscher Louis Kriesberg bereits 2002 eine Annäherung zwischen Sicherheits- und Friedenswissenschaften forderte, besteht in den USA noch immer eine intellektuelle Kluft zwischen den beiden Feldern, wohingegen sie in Deutschland enger miteinander verwoben sind. Vielleicht liegt dies auch an den weitaus begrenzteren Fördermöglichkeiten und infolgedessen engeren Zusammenarbeit in Deutschland.

Allerdings ist die Interdisziplinarität in den USA deutlich ausgeprägter. Genau in diesem Bereich sollte die deutsche Friedensforschung ihr Potenzial abrufen und zielgerichtet die nächste Generation von Friedenswissenschaftlern interdisziplinär, praxisbezogen und orientiert am Konzept des positiven Friedens ausbilden. Obgleich sie finanziell keineswegs mit der in den USA Schritt halten kann, besteht ihr »Wettbewerbsvorteil« darin, dass sie Friedens- und Sicherheitsforschung bereits sehr erfolgreich integriert und daher geradezu prädestiniert dazu sein könnte, eine Modellfunktion zur Erarbeitung anwendungsorientierter Lösungsansätze zu übernehmen.

Allerdings bedarf es hierzu eines erheblich stärkeren Engagements von Sponsorenseite. Gerade für Grundlagenforschung wird in Deutschland nur relativ selten Geld bereitgestellt, da die Entscheidungsträger hauptsächlich an konkret umsetzbaren Handlungsempfehlungen interessiert sind. Die intensive Forschung, die dafür erforderlich ist, wird allerdings nur in den wenigsten Fällen finanziell gefördert. Dies führt zum einen zu Produkten, denen zu oft der nötige wissenschaftliche Unterbau fehlt, zum anderen zu einer »Inselforschung«, die die Übertragbarkeit ihrer Ergebnisse auf andere Sachverhalte schwierig macht.

Weiterhin entsteht durch die recht geringe Anzahl von Instituten, die sich der Schnittstelle zwischen Friedens-, Sicherheits- und Entwicklungsforschung verschrieben haben, ein elitärer Kreis, der wiederholt und fast automatisch von einem ebenfalls überschaubaren Kreis von Drittmittelgebern gefördert wird. Hier könnte Deutschland von den Vereinigten Staaten lernen und (hoffentlich steigende) Fördermittel diversifizierter verteilen und zugleich neue und innovative Initiativen und Forschungs- sowie Studienprogramme initiieren.

Heute ist die deutsche Friedensforschung in einigen Bereichen durchaus wettbewerbsfähig, hinkt in anderen aber noch immer der US-amerikanischen hinterher. Allerdings fällt das Fazit des Vergleichs längst nicht mehr so negativ aus wie 1972 im »Spiegel« beschrieben.

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