Je länger man schweigt, desto schwieriger das Reden

György Dragomán erzählt über die jüngste Geschichte Rumäniens aus der Sicht einer Dreizehnjährigen

  • Fokke Joel
  • Lesedauer: 3 Min.

Emma hat es nicht leicht. Es ist noch nicht lange her, dass ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen. Aber dann taucht in ihrem Internat eine alte Frau auf und behauptet, ihre Oma zu sein. Emma glaubt ihr zunächst nicht. Ihre Mutter hatte immer gesagt, ihre Eltern seien tot. Doch dann packt sie ihre Sachen und geht mit der Frau mit.

Wie in »Der weiße König«, seinem ersten auf Deutsch erschienen Roman, erzählt György Dragomán abermals aus der Sicht eines Kindes. Und wie im Vorgängerbuch spielt sein neuer Roman in Rumänien, wo der heute in Budapest lebende Dragomán als Mitglied der ungarischen Minderheit 1973 geboren und aufgewachsen ist. Die Perspektive einer Dreizehnjährigen erlaubt ihm, vieles im Dunkeln zu lassen und nur anzudeuten, was hinter allem steht. Es muss mit der jüngsten Geschichte Rumäniens zu tun haben, mit der Revolution 1989 - einer Revolution, die nicht so unblutig vonstatten ging wie in den anderen osteuropäischen Ländern.

Gleich am ersten Tag wird Emma das auf brutale Weise deutlich. Als sie auf dem Stadtplatz auf ihre Großmutter wartet, die in die Apotheke gegangen ist, spricht sie eine alte Frau an und erzählt ihr, wie ein halbes Jahr zuvor während einer Demonstration Menschen erschossen wurden. Emma hilft ihr, neue Kerzen anzuzünden und auf dem Boden rund um ein kleines Häuschen zu stellen, das in der Mitte des Platzes steht und von vertrockneten Blumen und Tannenzweigen umgeben ist. Die Frau sagt, Emma sei ein »gutes Mädchen«, aber als dann ihre Großmutter kommt und die Frau erfährt, dass Emma deren Enkelin ist, gerät sie außer sich. »Die Alte fährt mich an, sie schreit, dass auch ich zu den Schuldigen gehörte, ich solle mich schämen, es gewagt zu haben, an diese heilige Stätte zu kommen, ich solle verschwinden.«

Immer wieder landet Emma in Situationen, die sie sich nicht erklären kann. Sie will wissen, was passiert ist und was hinter allem steht. Manche Erfahrungen drohen sie zu zerreißen, aber sie öffnen ihr auch die Augen. Am Ende durchschaut sie die Verstrickung von Schuld und Unschuld, von Tätern und Opfern besser als ihr kämpferischer Freund, der beim Sturm auf das Hauptquartier des Geheimdienstes dabei war.

Als Emma ihrer neuen Klasse vorgestellt wird und die Lehrerin vom Tod ihrer Eltern erzählt, sagt sie: »Was vergangen ist, ist vergangen.« Aber sie weiß, »dass es eine unermesslich große Lüge ist, es ist nicht vergangen, es vergeht nicht«. Wie wichtig es ist, von einer traumatischen Vergangenheit zu sprechen, erfährt sie von ihrer Großmutter, die spürt, wie Emma sich stumm immer wieder an ihre Eltern erinnert. Je länger sie schwiege, sagt die Großmutter, »umso schwieriger würde das Reden«. Auch sie habe einmal lange geschwiegen, »so lange, dass ich beinahe nie wieder hätte sprechen können.« Emmas Großvater hätte ihr damals geholfen, indem er ihr seine Geschichte erzählte. Und dass man die schmerzvollsten Geschichten nur so erzählen könne, »dass der, der zuhört, das Gefühl hat, dass sie ihm selbst widerfahren, dass es seine eigenen Geschichten sind.«

Mit »Der Scheiterhaufen« gelingt György Dragomán dies erneut auf beeindruckende Weise.

György Dragomán: Der Scheiterhaufen. Roman. Aus dem Ungarischen von Lacy Konitzer. Suhrkamp. 494 S., geb., 24,95 €.

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