Marktkonforme Kritik
Die »Panama Papers« könnten das Vertrauen in den Kapitalismus erschüttern. Ist das ein Grund zur Freude?
Putin, dieser elende Schurke! Jetzt macht er uns auch noch unsere schöne Marktwirtschaft madig. Zu diesem Resümee kann man aufgrund der Berichterstattung über die Panama Papers in der »Süddeutschen Zeitung« (SZ) gelangen. Tag eins: Die SZ titelt »Die heimlichen Millionengeschäfte des Putin-Zirkels« und illustriert das mit einer im Zentrum stehenden Porträtzeichnung des russischen Präsidenten. Aber der Name des russischen Präsidenten taucht in den Unterlagen gar nicht auf, nur die von engen Vertrauten.
Tag zwei: Der Leitartikel der SZ ist mit »Die Dunkel-Wirtschaft« überschrieben. Darin fürchtet Autor Marc Beise, dass die intransparenten Steueroasen das Vertrauen in die Marktwirtschaft zerstören könnten. Für die Banken, für die Finanzbranche insgesamt, gehe es jetzt um ihr wichtigstes Kapital: um Vertrauen. Viel, so Beise, sei davon nicht mehr übrig geblieben. »Die Erosion des Vertrauens hat inzwischen die Marktwirtschaft selbst angegriffen.« Höchste Zeit also, dass die Geschäfte der Geldschieber gestoppt werden und der Kapitalismus, pardon: die Marktwirtschaft gerettet wird. Hierfür fordert Beise etwas, das einem wirtschaftsliberalen Kommentator nicht so einfach aus der Feder fließen dürfte: die Freiheit des Wirtschaftens einzuschränken, sprich mehr Informationsaustausch, die Schließung der Steueroasen und schärfere Regeln für Briefkastenfirmen.
Wenn bald niemand mehr Vertrauen in die Marktwirtschaft hat – Engländer, Amerikaner und Linke sagen Kapitalismus –, könnte sich die kapitalismuskritische Linke ja freuen. Möglicherweise ergeben sich dadurch neue Spielräume für systemtransformierende Reformen. Doch mit solchen Hoffnungen sollte man vorsichtig sein. Keineswegs zwangsläufig geht eine Vertrauenskrise mit einem Erstarken der Linken einher. Wenn es arg kommt mit dem Vertrauensverlust, wie in der großen Krise von 2008, stimmt der politische Mainstream in die Schelte von Auswüchsen des Kapitalismus mit ein. So konnte die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« 2009 ihre klammheimliche Freude über die mangelnde Attraktivität der Linken nicht verhehlen: »Deshalb klingen die Appelle der IG Metall, in denen grenzenlose Profitgier gegeißelt wird, nicht mehr anders als die Beiträge eines Volksbankenfunktionärs, der bei Maybrit Illner dem Gewinnstreben abschwört. Die CSU kommt inzwischen mit ihren Anti-Manager-Tiraden daher wie Attac im Trachtenanzug und gewinnt damit Popularität.«
Ein weiterer Aspekt indes ist viel gravierender: Das Vertrauen in den Kapitalismus, das zeigen sozialwissenschaftliche Studien immer wieder, ist schon seit Langem nicht besonders hoch. Vielmehr sind irritierend hohe kapitalismuskritische und antikapitalistische Einstellungen verbreitet. Vor zwei Jahren hatte eine Allensbach-Umfrage festgestellt, dass die Menschen mit dem Begriff »Marktwirtschaft« in Summe kaum mehr positive Assoziationen als mit einem »staatlich organisierten Wirtschaftssystem« verbinden. Es gebe sogar Anzeichen, dass marktwirtschaftliche Prinzipien an Akzeptanz verlieren. So waren bis Anfang der 1990er Jahre etwa ähnlich viele Befragte der Meinung, die Verhältnisse seien gerecht beziehungsweise ungerecht. Seitdem aber steige der Anteil derer, die die Gesellschaft für ungerecht halten – heute sind es 65 Prozent. »Der Eindruck, es gebe immer mehr soziale Ungerechtigkeit, geht einher mit einem erheblichen Misstrauen gegenüber der freien Wirtschaft.«
Und 2012 fasste Allensbach seine Umfrage – sichtlich erleichtert nach dem Schock von 2008 – so zusammen: »Auch wenn die Bevölkerung einer pauschalen Systemkritik bemerkenswert deutlich zustimmt, ist sie von der Leistungsfähigkeit und Effizienz unseres Wirtschaftssystems weit mehr überzeugt als noch vor wenigen Jahren.« Aber noch fast jeder Zweite sehe in der Marktwirtschaft auch ein System, das die Starken begünstigt und in dem die Schwachen auf der Strecke bleiben.
Die Allensbach-Umfragen decken sich mit weiteren repräsentativen Untersuchungen. Diese fragten ausdrücklich nach antikapitalistischen, kapitalismus- und globalisierungskritischen Meinungen in Deutschland. Demnach stellten Richard Stöss in »Rechtsextremismus und Kapitalismuskritik« und die Friedrich-Ebert-Stiftung in »Die Mitte in der Krise« eine weite Verbreitung dieser Ansichten fest. So sind 72,2 Prozent der befragten West- und 77 Prozent der Ostdeutschen der Meinung, dass die internationalen Finanzmärkte Schuld an der wachsenden sozialen Ungleichheit sind. Alles in allem sind bei zwei Drittel der Befragten kapitalismuskritische Einstellungen vorhanden. Nach der Krise von 2008 gab es eine Zunahme, doch bereits zuvor war die Kritik am Kapitalismus recht verbreitet.
Allerdings: Die Forscher untersuchten zudem die Frage, ob in den Befunden auch eine Kapitalismuskritik von rechts zum Ausdruck komme – und bejahten das. So liegt die Vermutung nahe, dass mit einem möglichen weiteren durch die Panama Papers ausgelösten Erosionsschub ebenso rechte Systemkritik ansteigen könnte. Zumal in Zeiten von Flüchtlingskrise, Pegida, AfD und Anschlägen auf Asylunterkünfte.
Die personalisierende Skandalisierung der SZ und anderer Medien könnten dann dazu ihren Anteil beigetragen haben. Wenn überhaupt von einem Skandal die Rede sein kann, dann von diesem: Der globale Kapitalismus produziert extreme Ungleichheiten und ermöglicht es den Vermögenden, ihr Geld systematisch über Banken, Anwaltskanzleien und Briefkastenfirmen mithilfe des Staates vor dem Steuerzugriff zu schützen. Bernie Sanders formulierte es so: »Kinder sollten nicht hungern müssen, weil Milliardäre Steueroasen nutzen, um die Zahlung eines fairen Steueranteils zu vermeiden.«
Erkenntnisse übrigens, die in Andeutungen mitunter auch in der SZ zu lesen waren. Allerdings nicht am ersten Tag und nicht auf der ersten Seite, sondern im Interview mit dem Steueroasen-Experten und Direktor des »Tax Justice Networks«, John Christensen. Dieser interpretiert die Panama Papers als Demonstration, wie korrupt unsere Eliten geworden sind und mahnt ausdrücklich, nicht die große Banken der westlichen Welt dabei zu vergessen (diesem Thema immerhin widmete sich die SZ am zweiten Tag, und am vierten Tag gab es auf S. 19 (!) einen Text über die Steueroase Deutschland). Die interessanteste Aussage Christensen: »Die größten Steueroasen der Welt sind die Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien, die Schweiz und Deutschland.«
Ähnliches war in der FAZ zu lesen: Sie referierte die Studie des Politikprofessors Jason Sharman, der mit seinem Team unter falscher Identität rund 3700 Dienstleister und Anwaltskanzleien in 180 Ländern kontaktierte, um Briefkastenfirmen zu gründen. Das überraschende Ergebnis: Die Industriestaaten, einschließlich Deutschlands, machten es Steuerhinterziehern und Geldwäschern besonders einfach, eine Scheinfirma zu gründen. Wäre Sharman ein Krimineller, er ginge nicht nach Panama, sondern in die US-Bundesstaaten Wyoming, Nevada oder Delaware.
Nicht Putin, der wankende Premier des kleinen Islands, chinesische Funktionäre oder Kriminelle sind mithin das Problem, sondern der globale Kapitalismus in Europa und den USA. Google, Apple oder Facebook verlegen ihre Firmensitze dorthin, wo die Steuersätze am niedrigsten sind. Das ist völlig legal, aber war das nicht so manches andere auch? Die Sklaverei, das Vergewaltigen von Frauen in der Ehe?
Und ist es nicht so, dass Putin und sein Führungszirkel nur das nachahmen, was ihnen der Westen vorgemacht hat? War es nicht so, dass der Westen und seine Presse die Einführung des Kapitalismus nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bejubelt hat? Der Fokus der SZ – er bringt nur eine marktkonforme Kritik zum Ausdruck.
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