Spiel mit dem Feuer
Forderung nach Protektionismus führt in die Irre: Stahlindustrie braucht Ausrichtung auf Spezialstahl und staatliche Infrastrukturmaßnahmen
Einer Studie des Wirtschaftsforschungsunternehmens Prognos zufolge könnten bis 2030 »380 000 Arbeitsplätze verschwinden, wenn es in der Stahlindustrie zu einem exogenen Schock kommt«. Dieser drohe durch strengere Regeln der EU-Kommission für den Handel mit Kohlendioxidzertifikaten. Für den Auftraggeber der Studie, den Präsidenten der Wirtschaftsvereinigung Stahl, Hans Jürgen Kerkhoff, handelt es sich um »existenzbedrohende« Pläne, mit denen der Stahlbranche ab 2021 Belastungen in Höhe von jährlich einer Milliarde Euro drohen. Ökonomie versus Ökologie.
Eine weitere Bedrohung für die Belegschaften stellt der mögliche Einstieg des indischen Konzerns Tata Steel in die Stahlsparte von ThyssenKrupp dar. Was an der Börse für deutliche Kursanstiege der Stahlaktien sorgt, löst im Ruhrgebiet Existenzängste aus. Zum einen, weil Tata nur rund 200 Kilometer entfernt im niederländischen Ijmuiden bereits eines der profitabelsten europäischen Stahlwerke betreibt. Zum anderen, weil eine Abtrennung des Stahlgeschäfts gut ins strategische Konzept von ThyssenKrupp und seines schwedischen Finanzinvestors Cevian passen würde. Inzwischen spielt das einstige Kerngeschäft Stahl im Konzern nur noch eine untergeordnete Rolle.
Durch Fusionen würde erheblicher Kapazitätsabbau möglich - zu Lasten der Arbeitsplätze. Der OECD zufolge hat sich die globale Kapazität der Stahlindustrie seit Anfang 2000 mehr als verdoppelt. Alle Produzenten haben darauf mit Exportoffensiven reagiert, was zum Einbruch der Marktpreise um bis zu 40 Prozent und zum Absenken der Profitraten geführt hat. So spielt sich derzeit auf dem stagnierenden Weltstahlmarkt ein klassischer Konkurrenzkampf um Marktanteile und die Verdrängung von Wettbewerbern ab.
Hier nun beginnt eine selektive Wahrnehmung. »Dumping-Konkurrenz aus China, Wettbewerbsnachteile durch verschärften Emissionshandel: Die deutsche Stahlindustrie ist in ihrer Substanz bedroht«, heißt es im IG-Metall-Flyer, mit dem Stahlbelegschaften für den bundesweiten Stahlaktionstag mobilisiert wurden. Vorrangig richtet sich die Kampagne gegen China, wo mehr als die Hälfte des weltweiten Stahls hergestellt wird. Dabei hat die chinesische Regierung ihrerseits den Abbau von 500 000 Arbeitsplätzen in der Stahlindustrie angekündigt.
Unstrittig: Stahl ist und bleibt Teil einer qualitativ hochwertigen Wertschöpfungskette. Die Forderung nach Sicherung qualifizierter Stahlarbeitsplätze ist richtig. Ist es dafür aber angebracht, Seite an Seite mit Unternehmenseignern und Management gegen »Billigimporte« zu protestieren und »Schutzzölle« einzufordern? Spannen sich Betriebsräte und Gewerkschaften damit nicht vor den Karren einer renditeorientierten Unternehmenspolitik, ohne Einfluss auf deren Standortstrategien zu erlangen?
Ist es wirklich im Interesse der Stahlarbeiter, wenn gegen die vermeintliche Wettbewerbsverzerrung durch verschärften Emissionsrechtehandel demonstriert wird? Deutschland hat sich bis 2030 zu einer Reduktion der klimaschädlichen CO2-Emissionen um 40 Prozent verpflichtet. Auch die deutsche Stahlindustrie hat Maßnahmen ergriffen, um den CO2-Ausstoß zu verringern. Damit sind die technologischen Möglichkeiten längst nicht ausgereizt. Die Stahlunternehmen dürfen nicht aus der Pflicht entlassen werden, Forschungs- und Innovationsanstrengungen zur weiteren Reduktion des CO2-Ausstoßes zu verstärken. Der Verweis darauf, dass mit den EU-Plänen »chinesische Dreckschleudern« bevorzugt würden, zieht nicht. Die Zeiten, in denen China alte Anlagen im Westen aufkaufte, sind längst vorbei. Die heute produzierenden Werke wurden u.a. von deutschen Anlagenbauern in Asien neu errichtet.
Und was ist von der Forderung nach »Anti-Dumping-Zöllen« gegen China zu halten? Die EU-Kommission hat erst im letzten Monat darauf verwiesen, »dass schon insgesamt 37 handelspolitische Schutzmaßnahmen für Stahlerzeugnisse ergriffen wurden, 16 davon betreffen Einfuhren aus China«. Was würden die Beschäftigten der Automobilindustrie davon halten, wenn China deren Marktzugang einschränken würde? Für Deutschland, ein Land mit chronischen Exportüberschüssen gerade auch in der Metall- und Elektroindustrie, ist die Forderung nach Protektionismus ein Spiel mit dem Feuer.
Teil einer vorausschauenden Strategie wäre es, die Unternehmen darauf zu verpflichten, ihre Produktion noch mehr als bisher auf Spezialstähle auszurichten. Hier liegt die Zukunft und nicht im Massenstahl. Darüber hinaus sollte Druck gemacht werden für eine Wirtschafts- und Strukturpolitik, die entgegen der praktizierten Austeritätspolitik Ausgaben für Infrastrukturmaßnahmen wie Brückensanierungen und den Ausbau des öffentlichen Verkehrsnetzes fördert. Investitionen, die der Stahlindustrie neue Perspektiven eröffnen könnten.
Richard Detje ist Sozialwissenschaftler, Otto König war von 1995 bis 2010 Vorstandsmitglied der IG Metall. Beide arbeiten für die Zeitschrift »Sozialismus«.
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