Was würde Trotzki tun?
Was tun gegen den Rechtsruck? Eine möglichst breite Aktionsfront ohne Bündnisverbote – und eine klare Alternative zum ganzen kapitalistischen Establishment. Ein Beitrag zur Debatte von Wladek Flakin
Anfang der 30er Jahre nahm der faschistische Terror gegen die Arbeiter*innenbewegung in Deutschland von Tag zu Tag zu. Aus heutiger Sicht ist es schwer zu verstehen, wie die beiden großen Arbeiter*innenparteien, die SPD und die KPD, jede antifaschistische Zusammenarbeit zurückwiesen. Die Kommunist*innen seien nur »Kozis« oder »rotlackierte Faschisten«, sagte die SPD – die Sozialdemokrat*innen seien nur »Sozialfaschisten«, antwortete die KPD. Erst nach der Machtübergabe kam es, dass »sich Sozialdemokraten und Kommunisten schließlich vereint sahen – im K.Z.«
Die Alternative, die der russische Marxist Leo Trotzki und die von ihm beeinflusste »Linke Opposition« der Kommunistischen Internationale vorschlugen, war so einfach wie genial: eine Arbeiter*inneneinheitsfront gegen den Faschismus. Trotzki beschrieb plastisch, wie ein*e kommunistische Arbeiter*in diese Politik gegenüber einem*r weniger radikalen Kollegen*in vermitteln könnte: »Die Politik unserer Parteien ist unversöhnlich; aber wenn die Faschisten heute nacht kommen, um die Räume Deiner Organisation zu zerstören, so werde ich Dir mit der Waffe in der Hand zu Hilfe kommen. Versprichst Du, ebenfalls zu helfen, wenn die Gefahr meine Organisation bedroht?«
Doch für Trotzki als marxistischen Strategen ging es nicht um ein einfaches Defensivbündnis. Keine Sekunde lang dachte er daran, das Weimarer Regime – jene »Demokratie«, die aus einer blutigen Konterrevolution von Reichswehr, Sozialdemokraten, Freikorps und Junkern hervorging – zu verteidigen. Die weltweite Krise des Kapitalismus hatte die NSDAP erst zu einer Massenpartei gemacht – nur eine sozialistische Lösung der Krise durch die proletarische Revolution könnte dem Faschismus den Boden entziehen.
Trotzki sprach deswegen von einer »aktive[n] Verteidigung mit der Perspektive eines Übergangs zur Offensive«. Denn in der vereinten Aktion würden die kommunistischen Arbeiter*innen nicht nur Nazis verhauen – sie würden auch im praktischen Kampf ihre sozialdemokratischen Kolleg*innen überzeugen, dass die SPD-Führung jeden ernsthaften Kampf bremst. Es ging darum, die Arbeiter*innenmassen durch ihre eigene Erfahrung für den Kommunismus zu gewinnen. Deswegen war für Trotzki der Kampf gegen den Faschismus gleichzeitig ein »von der Flanke geführt[er], darum aber nicht minder wirksamen Kampf gegen die Sozialdemokratie«.
Die einheitlichen Ausschüsse, die die Selbstverteidigung der proletarischen Wohnviertel organisieren würden, würden sich auch schnell für alle Belange des Proletariats einsetzen. Sie würden zu allgemeinen Organen der Selbstorganisierung werden. In kleineren deutschen Städten wie Bruchsal oder Klingenthal konnten solche Ausschüsse enstehen. »Übertragt den Versuch auf Berlin«, schrieb Trotzki, »und Ihr habt den Berliner Sowjet der Arbeiterdeputierten!« Aus der Einheitsfront sollten die Keimformen einer sozialistischen Räterepublik hervorgehen.
Die Debatte im »nd«
Was bedeuten diese Überlegungen für heute? Auf dieser Seite findet eine Debatte darüber zwischen zwei Gruppen statt, die sich beide auf das Erbe Leo Trotzkis berufen. (Wer hätte gedacht, dass »nd« zu einem wichtigen Debattenmedium für Trotzkist*innen wird?) Das Netzwerk »Marx21« und die »Sozialistische Alternative« (SAV) arbeiten beide in der Linkspartei. Sascha Stanicic (SAV) plädiert dafür, »die Verantwortlichen für Austeritätspolitik, Sozialkürzungen, Wohnungsmangel und staatlichen Rassismus« – vor allem SPD und Grüne – nicht in Bündnisse gegen die AfD einzubeziehen. Stefan Bornost (Marx21) kontert, dass die Linkspartei »auch die Zusammenarbeit mit der SPD nicht scheuen darf«. Heino Berg und Yannic Dyck (SAV) legen nach und schreiben, dass die SPD »heute kein notwendiger Bündnispartner für den antifaschistischen Widerstand [ist], sondern ein natürlicher Gegner«.
Passt die Analogie?
Grob gefragt: Ist AfD gleich NSDAP, SPD gleich SPD, und Linkspartei gleich KPD? Die AfD ist inzwischen eine Partei mit einem rechtsextremem Programm und einem beginnenden Masseneinfluss. Noch grenzt sie sich von Mitgliedern ab, die allzu offen faschistisch auftreten. Doch Nazi-Schläger*innen gehören zu ihrer Basis. In der AfD sammeln sich gerade jene »wild gewordene Kleinbürger*innen« (Lenin), die sich immer stärker gegen die gesamte Arbeiter*innenbewegung richten werden. Denn programmatisch ist die AfD schon ein »Rammbock gegen die Arbeiter*innenklasse« – und sie will auch entsprechende Stoßtrupps schaffen. Doch aktuell geht die größere rassistische Gefahr in Deutschland noch von der Bundesregierung aus.
Die SPD hat sich in den letzten 80 Jahren stark verändert. Trotzki sprach von »Millionen Arbeitern« unter dem sozialdemokratischen Banner, die es mittels der Einheitsfrontpoltik zu erreichen galt. Diese Millionen gibt es nicht mehr. Dennoch hat die deutsche Sozialdemokratie noch Rückhalt in bestimmten (halb)proletarischen Milieus, etwa bei Rentner*innen und Gewerkschaftsbürokrat*innen. Als Reporter treffe ich auch bei Arbeitskämpfen hin und wieder SPD-Mitglieder. Ich verstehe nicht ganz, warum ein Streikender bei Amazon sich gegenüber einer Partei loyal fühlt, die seine Überausbeutung erst ermöglicht hat. Aber es ist so. (Trotzki hatte schon 1931 bemängelt, dass deutsche Arbeiter*innen viel zu lange in verrotteten Organisationen ausharren.)
Ist die SPD von heute nicht mit der SPD von damals zu vergleichen, hat die Linkspartei noch viel weniger mit der KPD gemeinsam. Letztere führte ebenfalls »Millionen Arbeiter« an, während die Linkspartei nicht mal auf 60.000 Mitglieder kommt. Wie mir ein Vorstandsmitglied der Linkspartei, das sicherlich nicht zitiert werden möchte, einst zu mir meinte: »eine Partei aus ostdeutschen Staatsbürokrat*innen und westdeutschen Gewerkschaftsbürokrat*innen.« Dazu gesellen sich einige hundert Menschen mit einem revolutionären Selbstverständnis (darunter SAV und Marx21), aber diese haben keinerlei Einfluss auf die Politik der Gesamtpartei.
Unfreiwillig komisch wirkt es, wenn die Genossen Berg und Dyck von der SAV ein Bündnis mit der SPD ablehnen, weil diese Partei für Abschiebungen verantwortlich ist. Denn die SPD der frühen 1930er, mit der Trotzki eine Einheitsfront bilden wollte, hatte am 1. Mai 1929 einfach so 33 Berliner Arbeiter*innen ermordet. Trotzki richtete seinen Vorschlag ausdrücklich an den verantwortlichen sozialdemokratischen Polizeipräsidenten Zörgiebel – mit der Ergänzung: »Nichts zurücknehmen von unserer Kritik an der Sozialdemokratie. (...) Die gesamte historische Rechnung, darunter auch die Rechnung für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, wird eines Tages präsentiert werden«. Auch heute sind gemeinsame Aktionen mit Sozen nicht grundsätzlich auszuschließen. Denn: Ist Sigmar Gabriel wirklich qualitativ schlimmer als Gustav Noske?
Vor allem arbeiten die beiden SAV-Genossen wie selbstverständlich in einer Partei mit, die ebenfalls regelmäßig die Verantwortung für Privatisierung, Repression und staatlichen Rassismus übernimmt. Wenn sich die Linkspartei für weniger Abschiebungen verantwortlich zeichnet, dann nur deshalb, weil sie seltener an die Regierung geholt wird. Aber bei jeder Gelegenheit nimmt sie die neoliberale und rassistische »Pflicht« einer Regierungspartei bereitwillig auf sich.
What would Trotsky do?
Aus Trotzkis Sicht könnte mit »dem Teufel und auch seiner Großmutter« eine antifaschistische Einheitsfront einbinden, »sogar mit Noske«. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass er Manuela Schwesig explizit ausgeschlossen hätte. Für ein Bündnis nannte Trotzki nur eine Bedingung: »Man darf sich nicht die eigenen Hände binden!«
Denn im Rahmen der gemeinsamen Aktion wollte Trotzki seine Bündnispartner*innen nicht verschonen, sondern umso schärfer bekämpfen. »Getrennt marschieren, vereint schlagen!« war seine Losung. »Keine gemeinsame Plattform mit der Sozialdemokratie oder den Führern der deutschen Gewerkschaften, keine gemeinsamen Publikationen, Banner, Plakate! [...] Sich nur darüber verständigen, wie zu schlagen, wen zu schlagen und wann zu schlagen!«
Doch Gruppen wie die SAV und Marx21 haben sich nicht nur die Hände gebunden – sie haben sich schwerste Stahlfesseln angelegt. Denn sie haben ein gemeinsames Banner mit Sarah Wagenknecht, die »Obergrenzen« für Geflüchtete fordert, und mit Bodo Ramelow, der tagtäglich Abschiebungen durchführt – nämlich das Banner »Die Linke«.
Einheitsfront oder Volksfront?
Die Einheitsfrontpolitik der richtige Ansatz, wie Revolutionär*innen heute im Kampf gegen rechts mit der traditionellen, rechten Sozialdemokratie (SPD) und der neuen, linkeren Sozialdemokratie (Linke) umgehen können. Nicht eine jahrelange Mitarbeit in einer reformistischen Partei, sondern eine scharfe politische Abgrenzung ist der Schlüssel. Dazu braucht man Vorschläge für gemeinsame Aktionen.
Unverbindliche Aufrufe wie Aufstehen gegen Rassismus helfen nicht. Es sind nur leere Worte von Politiker*innen, die selbst nur ein bisschen weniger neoliberal und rassistisch sind als die AfD. Solche Aufrufe sind in der deutschen Linken sowieso überbewertet. Gegen die rechte Gefahr hilft nur die Aktion.
Marx21 verdeutlicht mit einer denkbar unglücklichen Grafik, dass sie eine Anti-AfD-Front bilden wollen, die auch die CDU und die FDP einschließt. Dann ist es nur noch ein kleiner Schritt zu Gysis Vorschlag, dass die Linkspartei auch mit der CDU regieren sollte, um die AfD aufzuhalten.
Eine solche »Volksfront« aus allen antifaschistischen Parteien kann keine Lösung auf die kapitalistische Krise bieten, die den Faschismus erst entstehen lässt. In der antifaschistischen Einheitsfront gegen den Faschismus geht es gerade darum, die Selbstorganisation und Kampfkraft der Arbeiter*innenklasse zu stärken. Das ist nur ein Sprungbrett hin zur Konfrontation mit dem bürgerlichen Staat und dem Kapitalismus selbst.
Das politische Bündnis mit bürgerlichen Parteien gegen die AfD ist das genaue Gegenteil dessen: Der Glaube in die bürgerliche Demokratie und ihre Institutionen wird noch gestärkt – die AfD kann sich als die einzige »Anti-System-Partei«, »Alternative« und »Opposition« profilieren.
Schul- und Unistreik
Eine anfängliche Aktion dieser Art ist der bundesweite Schul- und Unistreik am 27. April. In manchen Städten beteiligen sich junge Sozialdemokrat*innen an den Vorbereitungen und das ist auch gut so. Auch Sigmar Gabriel höchstpersönlich wäre willkommen, solange er die Aktion unterstützt. Doch gleichzeitig werden sie mit scharfer Kritik rechnen müssen, weil ihre Partei seit Jahren den Boden für die AfD politisch vorbereitet.
Die Einheitsfrontpolitik könne allerdings laut Trotzki nicht von der Linkspartei geführt werden, wie es SAV und Marx21 vorschlagen, sondern »nur von einer kampferprobten revolutionären Partei.« Denn die Einheitsfrontpolitik im Sinne Trotzkis bedeutet der Aufbau von Strukturen, die sich dem kapitalistischen Staat entgegenstellen können.
Zu den Lehren aus den 30er Jahren zählt deshalb auf jeden Fall, dass Gruppen mit revolutionärem Selbstverständnis wie die SAV und Marx21 ihr bald zehnjähriges Dauerbündnis mit Wagenknecht, Ramelow und Co. beenden müssen. Die Linkspartei ist ein fester (wenn auch kleiner) Bestandteil des »Establishments« des bundesrepublikanischen Regimes.
Würden revolutionäre Kräfte auf die Schaffung einer unabhängigen Alternative – und nicht eines linken Flügels bei den Regierungssozialist*innen – wirken, würde das in der aktuellen Zeit von Umbrüchen sicherlich auf viel Zustimmung stoßen. Das ist aktuell die Erfahrung von revolutionären Gruppen in Argentinien, die in Form der klassenkämpferischen »Front der Linken und Arbeiter*innen« (FIT) in den letzten vier Jahren mehrmals eine Million Stimmen bekommen konnten.
Im Sinne Trotzkis: Gegen die AfD brauchen wir keine gemeinsamen Publikationen, Banner oder Plakate mit Reformist*innen! Wir brauchen eine möglichst breite Aktionsfront, in der ausnahmslos jede*r willkommen ist. Und in dieser verständigen wir uns, wann, wo und wie die AfD schlagen werden. Parallel dazu brauchen wir eine revolutionäre Partei als klare Alternative zum ganzen kapitalistischen Establishment, einschließlich seiner »sozialistischen« Verwalter*innen.
Wladek Flakin ist Historiker und Redakteur der Nachrichtenseite Klasse Gegen Klasse.
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