Ist Dummheit gesund?
Untersuchungen an Guppys und Singammern zeigen, Arten mit kleinem Gehirn haben oft die bessere Immunabwehr
Ein leistungsfähiges Gehirn ist sehr nützlich. Trotzdem bringt die Evolution immer wieder Lebewesen hervor, die sich mit einem winzigen Denkapparat begnügen müssen. Schlimmer noch: Bei manchen Fledermaus-Arten ist es sogar zu einer Schrumpfung des Gehirns gekommen, weil sie sich an eine Umgebung angepasst haben, die an sie geringere kognitive Anforderungen stellt. Große Gehirne haben allerdings einen gravierenden Nachteil: Sie fressen ungeheuer viel Energie. Und dieser Umstand hat weitreichende Folgen.
Kürzlich hat ein schwedisch-österreichisches Forscherteam unter der Leitung des an der Universität Stockholm und der Veterinärmedizinischen Universität Wien forschenden Biologen Alexander Kotrschal entdeckt, dass Guppys mit größerem Gehirn für Krankheiten anfälliger sind als solche mit kleinerem. Die Wissenschaftler berichten darüber im Fachjournal »Proceedings of the Royal Society B« (DOI: 10.1098/rspb.2015.2857).
Die Biologen haben zunächst zwei Populationen von Guppys aufgezogen: zum einem Guppys mit einem relativ kleinen Gehirn, zum anderen welche mit einem um im Durchschnitt 14 Prozent größeren. Danach wurden jeweils zwei Guppys mit unterschiedlichem Gehirnvolumen genommen und man entfernte jedem der beiden Tiere eine Schuppe (mitsamt Schleimschicht und Pigmentzellen) und pflanzte sie dem anderen ein.
Es zeigte sich schließlich, dass das angeborene Immunsystem der mit einem kleinen Gehirn ausgestatteten Guppys effizienter arbeitete als das ihrer besser bestückten Artgenossen. »Das Gewebe um die transplantierten Schuppen ist erst ein wenig angeschwollen. Dann ist die Schleimschicht trüb geworden und schließlich sind die Pigmentzellen der transplantierten Schuppe vom Immunsystem des Empfängers verdaut worden und verschwunden«, erklärt Kotrschal.
Drei Wochen später wurden den Guppys ein weiteres Mal Schuppen transplantiert. Man wollte dadurch herausfinden, wie stark bei diesen Fischen das erworbene Immunsystem reagiert, das imstande ist, sich die Eindringlinge und Fremdkörper zu merken, die es schon einmal abgewehrt hat.
Doch dieses Mal waren die Abwehrreaktionen der Guppys mit unterschiedlichen Gehirnvolumen im wesentlichen gleich heftig. Kotrschal und seine Kollegen schließen aus diesen Befunden, dass ein Gehirn mit höherer Leistung zu Lasten des Immunsystems geht, mit dem die Guppys auf die Welt gekommen sind. »Schlaue Fische zahlen also offensichtlich für ihre Klugheit mit einem minderwertigeren Immunsystem«, erklärt das Forscherteam. Kotrschal hat übrigens schon vor längerer Zeit die Entdeckung gemacht, dass Guppys mit größerem Gehirn auch weniger Nachwuchs produzieren. Außerdem kann er auf Studien verweisen, aus denen hervorgeht, dass bei einigen Vogel- und Fledermausarten eine größere Hirnmasse mit stärkerem Parasitenbefall einhergeht.
Aber nicht genug damit: Auf einer Wiese wachsen zwei Gänseblümchen direkt nebeneinander. Das eine ist ziemlich mickrig, das andere groß und kräftig. Wenn beide von den gleichen Schädlingen befallen werden, welches hat dann die höheren Überlebenschancen? Wie die Forschung erst jüngst zutage gefördert hat, ist es ohne weiteres möglich, dass sich die kleinwüchsige Pflanze als die widerstandsfähigere erweisen wird.
Damit sie sich gegen gefährliche Krankheitserreger zur Wehr setzen können, haben die Tier- und Pflanzenarten im Verlaufe der Evolution maßgeschneiderte Immunsysteme entwickelt. Immunsysteme funktionieren allerdings längst nicht so gut, wie man erwarten sollte - und erstaunlicherweise können sich nicht nur Arten in ihren Immunreaktionen stark voneinander unterscheiden, sondern auch Populationen und sogar Individuen ein und derselben Art. Diese Variationen sind zum einen zurückzuführen auf die Vielfalt der Angreifer und ihrer Angriffsstrategien und das ständige Wettrüsten zwischen attackierenden Viren, Bakterien und Pilzen und den sich gegen sie verteidigenden Organismen. Die Variationen lassen sich zum anderen auf einen simplen Umstand zurückführen: Immunsysteme zu unterhalten kostet eine ungeheure Menge an Energie. Immunsysteme können deswegen nur verbessert werden, wenn dafür Energie aufgewendet wird, die anderswo eingespart wurde. Vermutlich einer der Gründe für die Empfindlichkeit der auf maximalen Ertrag gezüchteten Nutzpflanzen.
Vor einiger Zeit haben die Biologen Jim Adelman von der Universität Princeton sowie Michaela Hau und Martin Wikelski vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell die Immunreaktionen frei lebender nordamerikanischer Singammern untersucht. Zunächst wurden Ammern in Südkalifornien und im Norden des Bundesstaates Washington gefangen. Danach injizierten sie Vögeln aus beiden Populationen eine winzige Dosis bakterieller Zellwände, wodurch eine 24 Stunden dauernde Infektion hervorgerufen wurde. Die übrigen Ammern blieben unbehandelt. Schließlich wurde bei allen Vögeln 20 Stunden lang die Körpertemperatur gemessen.
Dabei zeigten sich aufschlussreiche Unterschiede. So lagen bei den infizierten kalifornischen Ammern die Körpertemperaturen durchgehend um mehr als zwei Grad Celsius höher als bei ihren nicht infizierten kalifornischen Artgenossen. Demgegenüber wichen die Temperaturen bei den Ammern aus Washington höchstens ein Grad voneinander ab.
Die Wissenschaftler haben hierfür eine schlüssige Erklärung: In Washington sind die Singammern gezwungen, nahezu ihre gesamte Zeit und Energie in ihre Fortpflanzung zu investieren, denn ihre Brutzeit ist mit nur 100 Tagen äußerst kurz. Die kalifornischen Ammern hingegen können einen beträchtlichen Teil ihrer Ressourcen in ihr Immunsystem investieren, da ihre Brutzeit 50 Tage länger dauert.
Doch nicht allein Immunsysteme sind ziemlich kostspielig. Kürzlich haben die amerikanische Zoologin Kendra Sewall und ihre Kollegen von der Duke University in Durham (North Carolina) herausgefunden, dass die Singammern, die am virtuosesten singen können, sich in ihrer Umwelt am schlechtesten zurechtfinden. Und diejenigen Ammern, die über den besten Orientierungssinn verfügten, haben am wenigsten musikalisches Talent. Sewall und ihre Mitarbeiter vermuten, dass dies auf die arbeitsteilige Organisation des Gehirns zurückzuführen ist. Während nämlich die Orientierung im Raum vom Hippocampus gesteuert wird, ist für das Erlernen und Hervorbringen der Arien eine andere Abteilung zuständig - das HVC (High Vocal Centre). »Offenbar«, schlussfolgern die Forscher, »ziehen erhöhte Investitionen in den Hippocampus (und in das räumliche Lernen) geringere Investitionen in die Gehirnareale nach sich, die für das Erzeugen von Gesängen (und die Größe des Gesangsrepertoires) entscheidend sind. Möglicherweise erfahren Weibchen, die Gesängen lauschen, so einiges über die kognitiven Stärken und Schwächen der Männchen.«
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