»Der Dämon des Krieges lebt unter uns«
Mia Couto, ein weißer Mosambikaner, schreibt obsessiv über Gewalt
Vor Jahren war ich in Mosambik gewesen, ein Reisender aus Europa, unterwegs zu bedrückend schönen Orten. Mitte der Achtziger lag das Land in Anarchie. Sechzehn Jahre Bürgerkrieg, eine Million Tote, Opfer mit abgehackten Ohren ... Beim nächsten Besuch, 1999, waren die Blutbäder im Busch nur noch Gerüchte. Die Krieger von einst trugen Anzüge und bekriegten sich in der Arena des Parlaments, manierlich, ohne Macheten.
Zwei Stationen der letzten Reise bleiben mir unvergesslich: die Ilha Josina Machel, eine Insel im Strom nicht weit von der Hauptstadt Maputo. Und das Makonde-Plateau, 2000 Kilometer nördlich an der Grenze zu Tansania. Die Insel ist Refugium für Kindersoldaten, unschuldig Schuldige. Woran ich mich vor allem erinnere: an ein Reinigungsritual aus Blut und Federn; an die Augen eines jungen Mannes, Da Costa, der mit zehn zum Killer wurde; an Da Costas tonlos leiernde Stimme, als er zu erzählen begann: »Wir haben Autos überfallen, viele Autos, haben die Leute getötet und die Autos verbrannt.«
Mosambik – das Wort hat Zauberklang. Es klingt nach Meer und Savanne, nach schwarzer Schönheit und unfassbarer Armut. Mosambik liegt in einer anderen Welt: die Hauptstadt 9000 Kilometer entfernt von Berlin. Bis zum Stammesgebiet der Makonde ist es etwas näher.
Uwe Stolzmann hat ein Privileg: Bilder von Mosambik, Erinnerungen voller Farben, Töne und Gerüche. Er hat dort gelebt, in den Achtzigern. Und später hat er die Makonde besucht.
Stolzmann hatte einen Führer im Makonde-Land – um die fünfzig, klein, dunkel, tätowiert. Marcos Agostinho Mandumbwe. Ein Mann aus Weisheit und Güte, er übersetzte aus dem Makonde, er übersetzte eine Kultur in die andere. Senhor Mandumbwe erzählte – und zog seinen Zuhörer in die Geschichte: in eine der düsteren Kammern afrikanischer Historie. »Kolonialzeit« steht an der Tür. Niemand im Makonde-Land spricht über »die sechziger Jahre«. Die Leute sagen: »Nos tempos coloniais«.
Senhor Mandumbwe erzählte: »Wir waren Bauern, wir hatten Erdnüsse, Mais und Maniok. In der Kolonialzeit, als die Leute zum Kampf in den Busch gingen, kamen portugiesische Soldaten ins Dorf. Den Vater haben sie nicht gefunden, da verprügelten sie meine Mutter und brannten unsere Hütte nieder. Auch die Erdnüsse haben sie verbrannt, die ganze Ernte. Und ein Gehege mit Schweinen. Die Mutter musste ins Gefängnis. Meine Schwester und ich gingen zum Vater in den Busch. Wir sahen die Mutter erst 1974 wieder, zehn Jahre später. Ins Dorf sind wir nie zurückgekehrt.« nd
Die zweite Station jener Reise - das Plateau im Norden, bewohnt vom rebellischen Volk der Makonde - ist immer wieder Kriegsgebiet gewesen. 1917 kämpften hier Deutsche gegen Portugiesen, ab Beginn der 1960er Schwarz gegen Weiß. 1975 wurde Mosambik unabhängig; im Jahr darauf begann der Bürgerkrieg.
An einem Apriltag bin ich von der Küste ins Makonde-Land gefahren, zehn Stunden westwärts auf polternder Piste - da liegen die Krokodile, sagte der Fahrer, und da drüben gehen die Löwen zum Fluss, Sie sollten hier nicht übernachten! Am Straßenrand sah ich die Wracks ostdeutscher Lkws, sah eine Tote unter fröhlich buntem Tuch und alte Männer im Anzug, mit Pfeil und Bogen.
Endstation: Mueda, ein Kaff, einst Basis der Portugiesen. In Mueda, im Nebel, habe ich die Spuren der Kriege gesehen: Portugals Denkmal für die Toten von 1917 und das Amtsgebäude, vor dem im Juni 1960 insgesamt 600 Makonde ermordet wurden. Ich habe die Rollbahn gesehen, von der später die Bomber aufstiegen, um Rebellendörfer zu zerstören. Und die Mischung aus Stolz und Schmerz in den Gesichtern der Einheimischen. Schöne Gesichter haben die Makonde, daran erinnere ich mich, eigenwillig schön, Wangen und Stirn tätowiert, die Zähne spitz geschliffen.
Woran ich mich wenig erinnere, sechzehn Jahre danach: an das Interview mit jenem Mann, der heute mein Gedächtnis befeuert. Mia Couto, Schriftsteller. Couto ist eine auffällige Erscheinung, eigentlich; schon wegen des Namens. Und weil er weiß ist, ein heller, bärtiger Mosambikaner. Doch im Gespräch macht er sich unsichtbar, er verschwindet hinter seinen Worten. »Meine Landsleute dachten bisweilen, der Bürgerkrieg würde nie zu Ende gehen.« Das sagte er in Maputo. Und: Auf gewisse Weise hätten die Leute recht behalten.
Couto kam 1955 zur Welt, er wurde Journalist und Biologe. 1983 erschien sein literarisches Debüt, ein Band Gedichte. 1992 publizierte er den ersten Roman, weitere folgten, sie machten den Erzähler rasch populär, Mia Couto - Mitglied der Academia Brasileira de Letras, geehrt mit dem Prémio Camões. Der Titel jenes ersten Romans wurde zum Programm, zu Coutos Lebensthema: »Das schlafwandelnde Land«.
»Der Dämon des Krieges ist immer noch hier«, sagte Couto 1999 in Maputo. »Er lebt unter uns. Doch es ist besser, ihn hier zu haben, als an einem Ort, den wir nicht kennen.« Die Mosambikaner würden nie zurückschauen, so klagte der Autor. »Als gäbe es eine Verfügung über das Vergangene: Es ist besser, nicht daran zu rühren.«
Wer Mia Couto heute auf Facebook sucht, findet einen Mann mit einem Faible für tröstliche Fotos. Was für eine Galerie: Ballons und Blumen, Falter und Vögel, reichlich Sonnenuntergang am Strand und Kinder, Kinder, Kinder. Doch in seinem Texten kämpft Couto weiter mit dem Dämon. Vor kurzem erschienen gleich zwei Bücher auf Deutsch: »Jesusalem« (im Original von 2009) und »Das Geständnis der Löwin« (2012). Die Kulissen scheinen dem Reisenden seltsam vertraut.
»Jesusalem«: Das Wort erinnert an Jerusalem, bedeutet aber »Jenseits von Jesus«. Jesusalem ist ein unheiliger Ort, ein Camp, entlegen wie die Ilha Josina Machel und wie jene Insel geprägt vom Trauma der Gewalt. Im Camp leben: ein Mann mit Namen Silvestre (»der Wilde«), sein Faktotum Zacaria sowie Silvestres zwei Söhne. Der 11-jährige Mwanito erzählt uns die Geschichte. Erzählt von einem Universum ohne Frauen, ohne Gedächtnis, ohne Bücher und Musik. Erzählt vom Ex-Soldaten Zacaria, der in vielen Kriegen getötet hat, und von Vater Silvestre, für den die Welt draußen versunken ist. Sie seien die Letzten ihrer Art, erzählt der Tyrann seinen Söhnen. Doch irgendwann drängt die Außenwelt doch in das Camp. Mwanito bricht auf zu neuen Ufern, die falsche Insel versinkt, ihr Schöpfer ertrinkt.
Der zweite Roman, »Das Geständnis der Löwin«, spielt im Makonde-Land, in einem Dorf namens Kulumani. Im Kern sei dies eine wahre Geschichte, betont der Autor im Vorwort, er habe sie 2008 aus nächster Nähe erlebt: Untiere gehen um in der Region, vermutlich Löwen, sie reißen junge Frauen. Man holt einen Jäger aus dem fernen Maputo. Der Mann heißt Arcanjo, das bedeutet: Erzengel. Mit dem harten Blick des Städters schaut Arcanjo auf die Welt der Makonde. - Ich habe diese Welt als Reisender gesehen: saubere Hütten zwischen Obstbäumen, Frauen in farbigen Stoffen, manche mit einer Losung auf dem Rücken: »Für eine bessere Zukunft!« Und Männer, dunkel wie das Ebenholz, aus dem sie ihre Figuren schnitzen. Ich habe den Rauch gerochen, der durch die Strohdächer drang, und so ein Dorf gehört: die Flipflops der Frauen auf der harten Erde, Trommeln und Gesang, am Abend die Bässe der Maismörser.
Zwei Ich-Figuren prägen den Roman - die junge Mariamar aus Kulumani und der Jäger Arcanjo. Abwechselnd zitiert der Erzähler aus ihren Tagebüchern. Die fiktiven Texte treiben die Geschichte voran, eine Geschichte aus Schuld und Scham, Angst und Trauer. Schwarze Autoren haben die afrikanische Finsternis schon oft beschrieben, häufig auf westliche, »weiße« Weise: realistisch, mit kalter Eleganz. Die Portugiesin Lídia Jorge, ihrerseits, hat aus eigenem Erleben vom Kolonialkrieg erzählt, von den Massakern im Makonde-Land. (»Die Küste des Raunens«, 1988.) Sie tat es so gnadenlos gut, dass dieser Krieg für den Leser 300 Seiten lang Wirklichkeit wurde. Mia Couto ist kein Anhänger des Realismus. Der Autor schreibt betont schwarz; Tag und Traum, Dies- und Jenseits verschlingen einander. Für seine Experimente erntet Couto verlässlich Lob, indes: Die jüngsten zwei Romane sind schwere Kost. Die Storys wirken konstruiert, sie verästeln und verlieren sich; die Figuren bleiben blass, ihre Stimmen unterscheiden sich wenig. Und der Stil klingt manchmal hölzern. Aber Stimmung haben die Storys, und diese Stimmung scheint wichtiger als der Plot. Das Grundgefühl ist Bedrohung, eine vage Bedrohung, für die die Löwen im letzten Roman nur ein Bild sind. »Warum hat man einen Jäger geholt?«, fragt eine Figur, ein Blinder. »Man hätte mich holen sollen, ich bin Soldat.« Auf welcher Seite er denn gedient habe? »Auf allen.« Couto zeigt: Die unablässige Folge von Feldzügen hat Mosambiks Gesellschaft ausgehöhlt. »Ein Krieg ist nie zu Ende«, betont der Krieger Zacaria in »Jesusalem«.
»Krieg« - Mia Couto nutzt das Wort als Synonym für eine gewalttätige Kultur. Verschiedene Formen von Gewalt, das lehrt der Erzähler, durchdringen einander in Mosambik. Kämpfe seien eine Form. Eine andere: Terror gegen junge Frauen. Demütigung, Verachtung, Vergewaltigung. Die Buchfigur Mariamar wird vom Vater missbraucht und von der Mutter deshalb verprügelt und verhext. »Verfluchtes Luder!« Und die menschenmordenden Löwen, wie passen sie ins Bild? Im Jahr 2008 waren diese Löwen real. Couto berichtet von 26 Toten im Makonde-Land; die Fälle hätten ihn zu seinem Buch inspiriert. Die Mädchen im Roman werden jedoch nicht von wilden Tieren getötet, wohl auch nicht von Geisterkriegern in Löwengestalt (wie die Männer behaupten). Arcanjo ahnt es rasch, der Leser wenig später - die Löwen leben im Dorf. Man kann Coutos Romane als Hilfeschrei verstehen: Tut etwas gegen den Kreislauf der Gewalt! Nur was? Mia Couto hat keine Lösung, er hat nur Trost, eine aberwitzige Ermunterung. Auf einem Foto seiner Facebook-Galerie sieht man eine Raubkatze, fliehend, gejagt von einer Herde Büffel. Darüber den Spruch: »Wenn das Wild sich vereint, bleibt der Löwe hungrig.«
Mia Couto: Jesusalem. Wunderhorn Verlag, Heidelberg. 216 S., 24,80 Euro. Das Geständnis der Löwin. Unionsverlag, Zürich. 272 S., 19,95 Euro. Beide Romane wurden aus dem Portugiesischen übersetzt von Karin von Schweder-Schreiner.
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