Ein alter Schlawiner hofft auf Bewährung
In Wien beginnt das »Kapitalismustribunal«
Im räudigen Berlin mag man am 1. Mai auf die Straße gehen. Im eleganten Wien geht man allemal lieber ins Theater, wenn auch aus manchmal vielleicht ähnlichen Motiven: Im dortigen Theater »brut« nämlich beginnt am traditionellen Kampftag der arbeitenden Klasse endlich jener Prozess, auf den viele schon nicht mehr zu warten gewagt hatten. Beim »Kapitalismustribunal« steht das System, das Geld in Ware und wiederum mehr Geld verwandelt und dabei die Welt nach seinem Wesen formt, endlich als solches vor Gericht.
Gleich zwölf Tage lang muss sich der Kapitalismus, vom Dichter und Sänger Peter Licht so schön der »alte Schlawiner« genannt, in diesem Prozess für seine Taten und Unterlassungen verantworten. Weit mehr als 200 Klagen liegen inzwischen vor, die nun - in sieben Deliktfelder gegliedert - abgehandelt werden sollen. Zur Klage berechtigt war, so heißt es, »jeder lebende Mensch«. Also vor allem diejenigen Kinder der westlichen oder kosmopolitischen Mittelklassen, die der Kapitalismus in Positionen gestellt und mit Sprechfähigkeiten ausgestattet hat, die sie im vergangenen Jahr von diesem »Diskursfestival« hat erfahren und dessen Tonlage auch treffen lassen?
Wer immer diesen Vorbehalt gegen ein »nur kulturlinkes« Format hegt, sollte sich die im Internet veröffentlichte Liste der Gravamina doch einmal etwas genauer ansehen. Sicherlich finden sich dort Klagen, die sich - so berechtigt sie sind - mit nur wenig Mühe den aktuellen Themen und Moden akademischer Kritik zuordnen lassen. Es gibt aber auch Einsendungen, die in Form und Inhalt auf eine weniger situierte Urheberschaft verweisen. Die Veranstaltung, die in ihrem Format an das berühmte »Russell-Tribunal« über Verbrechen im Vietnamkrieg oder an das kleinere Berliner »Foucault-Tribunal« zur Kritik des Psychiatriewesens anknüpft, scheint also die Falle des Elfenbeinturms vermieden zu haben.
So ist der Kapitalismus in Wien unter anderem der »Lügenpresse« wegen angeklagt, die er »durch Anzeigen, Staatsknete oder direkte Erpressung« korrumpiert oder direkt gekauft habe; auch die Agenda eines gewissen Joachim Gauck wird vor die Schranken gerufen: Führe dieser doch offenbar »Angriffskriege im Schilde«. Einem anderen Kläger sind zum Beispiel die LED-Scheinwerfer ein Graus, mit denen die Konzerne seit einigen Jahren ihre Automobile ausrüsten. Diese Lampen stünden mit ihrem gefährlich blendenden Licht für ein Protzgehabe, das für andere Verkehrsteilnehmer »das Leben mit Monat um Monat sich verschärfender Tendenz zur Hölle« mache. Verhandelt werden in Wien sowohl exemplarische Einzelfälle als auch geschichtliche Prozesse und allgemeine Ordnungsprinzipien der modernen Gesellschaft; mal stehen also einzelne Konzerne im Blickpunkt, konkrete Personen und mal anonyme Entwicklungen.
BASF etwa soll sich für das »Massaker von Marikana« verantworten - jenem schwarzen Höhepunkt des wilden Bergarbeiterstreiks in Südafrika, bei dem am 16. August 2012 in einem Platinbergwerk, das an den deutschen Chemiekonzern liefert, 34 Bergleute erschossen wurden, wozu sich der deutsche Konzern bislang kaum verhalten hat. In Bausch und Bogen angeklagt ist aber auch das Patriarchat in seiner kapitalistischen Erscheinung: »Wie kann es sein, dass der Körper der Frau zur Vermarktung genutzt wird, ihr selbst aber nicht das Recht über diesen zusteht?«, heißt es in der entsprechenden Klageschrift. Aufgerufen wird ferner die »Wohnungsnot trotz Leerstands«, die »Gentrifizierung«, der kapitalistische Kolonialismus in Afrika, die Schinderei am Arbeitsplatz, die atemlose Jagd nach Studienpunkten. Auch Hans-Werner Sinn und die »sogenannten Wirtschaftsweisen« sowie ganz allgemein »bereitwillige Intellektuelle« sind beklagt - und Gerhard Schröder, Hartz IV der Klimawandel, die Tabakindustrie sowie Umweltzerstörung durch den peruanischen Kupferabbau für westliche Konzerne. Ein Kläger hat konsequenterweise zur Selbstanzeige gegriffen - als »unfreiwilliges Mitglied eines globalen Wirtschafts- und (eben noch viel schlimmer) Gesellschaftssystems« sei er an all dem beteiligt, was er »doch so sehr zu bekämpfen oder zumindest zu umgehen« versuche.
Eine wilde Liste von allem und Nichts, könnte man a meinen. Doch ist es - siehe »Lügenpresse« - gut, dass das von dem Berliner Pop- und Rockradiomoderator Jörg Petzold initiierte Tribunal nicht nur gesetzte Expertenkritik aufgreift, sondern auch Ansätze jener politisch unbestimmten Wut adressiert, die in jüngerer Zeit so auffällig ist. Ob eine solche Mammutveranstaltung aber gelingen kann, ohne zu zerfransen oder am Ende doch als Vorlesung zu enden, werden die kommenden Tage erst zeigen müssen. Offen ist auch die Frage, ob und inwiefern von dem »Festival« Impulse in eine Stadt und ein Land ausgehen können, dem die Präsidentschaft eines mehr oder minder radikalen Rechten droht.
Was bleibt, ist die Frage nach dem Ausgang des Prozesses. Wird der Kapitalismus jetzt endgültig weggesperrt? Oder darf er doch noch einmal auf Bewährung hoffen, wenn er ein bisschen Besserung gelobt? Das Tribunal - unterstützt von den rot-rot-grünen bundesdeutschen Parteistiftungen - soll »fair« verlaufen, wird angekündigt. Einen ersten Vorgeschmack auf einen möglichen Richterspruch bot eine »Vorverhandlung« vergangenen Sommer in Berlin: Festgestellt wurde, dass der Schlawiner lügt, wenn er behauptet, er schaffe am Ende »Wohlstand für alle«. Doch letztlich kam er mit einer recht milden Auflage davon: Arbeiter und Angestellte sollten direkt auf Investitionsentscheidungen Einfluss nehmen können.
Kapitalismustribunal, Theater »brut«, Wien, 1. bis 12.5.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.