Lange Phase gewerkschaftlicher Defensive
Die Streikkultur ändert sich - auf dem »Marx-is-Muss«-Kongress suchen LINKE und Gewerkschaften nach Antworten
Nein, Deutschland sei sicherlich kein Streikland, so Thomas Goes vom Soziologischen Forschungsinstitut an der Universität Göttingen. Auch wenn die vielen mit Streiks geführten Arbeitskämpfe des Jahres 2015 das vermuten lassen. Und doch ist für Goes etwas »in Bewegung geraten« letztes Jahr, als mehrere Tarifkonflikte zusammenfielen: bei den Metallern, in der Elektroindustrie, bei den Erziehern, der Post und der Bahn.
Auf dem Marx21-Kongress »Marx is Muss« in Berlin sprach der Soziologe am Freitag zusammen mit Linksparteichef Bernd Riexinger zum Thema »Neue Streikbewegungen und Herausforderungen für Gewerkschaften und LINKE«. »Wir befinden uns in einer langen Phase gewerkschaftlicher Defensive«, fasste Goes eine doch eher trostlos erscheinende Aufzählung der Schwächen der Gewerkschaften zusammen: überall nur Rückgänge, sei es bei den Organisationsgraden, der Tarifbindung, der betrieblichen Mitbestimmung oder den Mitgliedszahlen. Um fünf nach zwölf sei es, aber auch Zeit, eine neue Geschichte zu erzählen.
Denn die Streiklandschaft ändert sich und eröffnet somit neue Möglichkeiten, gegen die neoliberale Politik anzugehen. Herausragend ist vor allem die Verlagerung der Streiks in den Dienstleistungssektor, in dem letztes Jahr 80 Prozent aller Arbeitskämpfe stattfanden. Während bei großen Industriegewerkschaften eine Generation heranwächst, die selbst keinen wirklichen Tarifkonflikt mehr ausgefochten hat und nur noch Warnstreiks kennt, sind es die prekär Beschäftigten - und vor allem Frauen -, die in den Streiks im Dienstleistungsgewerbe neue Erfahrungen machen und zur treibenden Kraft bei Tarifauseinandersetzungen geworden sind.
Dass dies so ist, liegt auch an dem Niedergang der Streikkultur in den klassischen Industrien. Mit der Ausgliederung bestimmter Arbeitsschritte aus den Produktionsprozessen und mit der Zunahme von Zeitarbeit und Werksverträgen fallen immer mehr Beschäftigte aus der Tarifbindung heraus; die Stammbelegschaft fürchtet um ihre Privilegien und lässt sich in Arbeitskämpfen gegen die prekär Beschäftigten ausspielen. »Wann immer von neuen Produktionsstrukturen gesprochen wird«, erklärt Riexinger die Unternehmersprache, »bedeutet das, dass die Reichweite der Tarifbindung verringert wurde.«
Der Soziologe Goes sieht damit einhergehend eine doppelte Polarisierung der Beschäftigten. Einerseits führen die permanenten Rationalisierungen und der Verdrängungswettbewerb zu einem Gefühl des Abgehängtseins, einer Wahrnehmung von »wir hier unten gegen die da oben«. Das Versagen der Politik, für soziale Gerechtigkeit zu sorgen, stellt andererseits die Demokratie in Frage.
Riexinger will die Reaktion auf die soziale Ungerechtigkeit nicht den Demagogen von rechts überlassen. Stattdessen sieht er die große Chance, zusammen mit den Gewerkschaften eine grundlegend neue Politik zu fordern. Dazu bedarf es allerdings einer Erweiterung der Ziele der Arbeitskämpfe: Riexinger fordert von den Gewerkschaften eine große Regulierungskampagne, die die Prekarisierung zum Thema macht. Dafür »müssen Gewerkschaften wieder die Interessen der gesamten Klasse vertreten«, so die Forderung des Vorsitzenden der LINKEN.
Um das zu ermöglichen, reichen aber Auseinandersetzungen um höhere Löhne nicht aus. Um die Tarifflucht der Unternehmen zu bekämpfen, bedarf es politischer Regulierungen, die nur über politische Kampagnen erkämpft werden können. Die allgemeine Tarifverbindlichkeit müsse das Ziel sein und Unternehmen, die dem nicht folgen wollen, in Kampagnen skandalisiert werden. Hier liege auch die Chance für die LINKE, um aktiv die Politisierung der Beschäftigten voranzutreiben und als Partei eine treibende Rolle einzunehmen. Letztlich sei es die Auseinandersetzung mit den Betrieben, die politisch etwas bewirken können, sagt Riexinger: »Der Schüssel für politische Veränderung liegt in den Betrieben, nicht in der Politik.«
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.