Ebola wirft das Land um Jahre zurück
Cap-Anamur-Projektleiter Dennis Wellmann über Straßenkinder, Slums und die Folgen der Epidemie in Sierra Leone
Herr Wellmann, Sie sind Leiter von Cap Anamur für ein Straßenkinderprojekt in Sierra Leone. Wie finden Sie ihre Schützlinge?
Wir fahren nachts hinaus in die Slums und versuchen, dort Straßenkinder ausfindig zu machen. Wir fragen die Kinder dann, warum sie auf der Straße leben und nicht bei ihren Familien. Anschließend bieten wir ihnen an, zu uns ins Projekt zu kommen.
Wie geht es dann weiter?
Die Kinder bleiben in der Regel ein bis zwei Monate, bis Sozialarbeiter ihre Familie gefunden haben. Es gibt Fälle, wo es sehr schwierig ist, gerade durch die Ebola-Epidemie sind oftmals Eltern verstorben. Unsere Mitarbeiter müssen dann andere Familienmitglieder ausfindig machen. Häufig sind Familien jedoch finanziell nicht in der Lage, ihre Kinder wieder aufzunehmen. Dann folgt ein langer Vermittlungsprozess, der sich über Monate hinziehen kann.
Dennis Wellmann ist Leiter des Straßenkinderprojektes »Pikin Paddy« der Hilfsorganisation Cap Anamur in Sierra Leone. Als einziger Ausländer im Programm koordiniert der 38-Jährige in der Hauptstadt Freetown seit rund einem Jahr 25 Mitarbeiter, darunter hauptsächlich Betreuer und Sozialarbeiter. Das Ziel des Projektes ist es, Straßenkinder zwischen sechs und 14 Jahren in ihre Familien zurückzubringen. Es gibt auch eine Unterkunft, wo die Schützlinge unterkommen können.
Wie überzeugen Sie die Familien, ihre Kinder wieder aufzunehmen?
Wenn die ökonomische Situation die Ursache ist, bieten wir den Familien an, die Ausbildung ihrer Kinder zu bezahlen. Das betrifft Schulgeld, Schuluniform, Schuhe, Schultaschen und manchmal auch Schulessen. In den meisten Fällen entlastet das die Familien. Im Moment finanzieren wir die Ausbildung von 115 Kindern.
Was sind die Gründe, warum Kinder gegangen sind oder verstoßen wurden?
Meist sind Kinder betroffen, die von ihren Eltern Geld gestohlen oder verloren haben und dann Angst hatten, wieder nach Hause zurückzukehren. Ein weiterer Grund ist der praktische Nutzen. Wir betreuen auch körperlich und geistig behinderte Kinder in unserem Projekt. Diese wurden von ihren Familien ausgesetzt, da die Versorgung viel Geld kostete und sie wenig zur Familienarbeit beitragen konnten. Während der Ebola-Epidemie wurden Kinder häufig in Krankenhäusern ausgesetzt.
Ist es nicht gefährlich, Kinder in ihre Familien zurückzubringen, wenn sie beispielsweise vor der dortigen Gewalt geflohen sind?
Eine Kernsäule unseres Projektes ist die Betreuung der Kinder, wenn diese zurück bei ihren Familien sind. Noch Monate nach der Wiedervermittlung prüfen wir die Situation vor Ort. Sollte sich die Lage verschlechtern, versuchen wir mit den Familien die Probleme zu besprechen. Wir haben im Moment 51 Fälle, wo das Kind Gefahr läuft, wieder auf der Straße zu landen.
Wie viele landen wieder auf der Straße?
Wir haben eine relativ gute Bilanz. Seit 2012 haben wir 600 Kinder in unserem Projekt betreut, davon sind 84 Prozent bei ihren Familien geblieben.
Welches Leben führen die Kinder in den Slums?
Man sieht sie oft auf Marktplätzen, wo sie versuchen, an alte Lebensmittel ran zukommen. Wir erleben auch, dass sich Jüngere zunehmend nachts in Kinos oder in Supermärkte einschließen aus Angst vor der Polizei. Diese geht verstärkt gegen Straßenkinder vor und verprügelt vor allem ältere Jungs. Es gibt zudem eine starke Konkurrenzsituation unter den Kindern, sie rauben sich gegenseitig aus.
Welche Rolle spielt Prostitution?
Prostitution steigt an, besonders bei jungen Mädchen. Wir haben ein großes Problem, diese zu überzeugen, an unserem Projekt teilzunehmen, da sie vergleichsweise viel Geld verdienen. Aufgrund der ökonomischen Lage ist es schwierig, wirksame Aufklärungskampagnen umzusetzen.
Wie binden Sie die Bewohner der Slums in ihre Arbeit ein?
Es gibt in den Stadtvierteln sogenannte Chiefs, ältere Männer, die von den Bewohnern als Autorität und Sprecher akzeptiert werden. Wir nehmen Kontakt mit ihnen auf und machen sie zu unseren Informationsgebern.
Wie ist die Versorgungslage im Land?
Sierra Leone gehört zu den ärmsten Ländern der Welt, der zehnjährige Bürgerkrieg ging erst 2002 zu Ende. Innerhalb dieser Jahre konnten die Menschen keine Bildung erlangen, ein Aufbau ist dadurch erschwert. Man kann von einer verlorenen Generation sprechen. Nach dem Bürgerkrieg hat die Regierung versucht, den Menschen Arbeit zu geben. Dann kam jedoch die Ebola-Epidemie und hat das Land in seiner Entwicklung erneut um Jahre zurückgeworfen.
Seit Ende vergangenen Jahres gilt Ebola als besiegt.
Schon vor der Epidemie hatte Sierra Leone ein schlechtes Gesundheitssystem. Der Ebola-Ausbruch hat die Situation noch mal verschärft. Zahlreiches medizinisches Personal ist an der Epidemie verstorben. Im Moment fehlt es an Fachärzten, an Medikamenten und an Material. Hinzu kommt, dass das System in seiner Verwaltung ineffizient ist und Korruption den Wiederaufbau behindert.
Wie handlungsfähig ist die Regierung bei der Versorgung der Menschen?
Die Regierung versucht, einer breiten Bevölkerung ein gewisses Maß an Versorgung zu gewährleisten. Für Kinder unter fünf Jahren gibt es beispielsweise eine freie Gesundheitsversorgung. Auch die HIV-Vorsorge ist frei. Es gibt allerdings keinen Sozialstaat. Wenn jemand keine Arbeit hat, ist er darauf angewiesen, dass die Familie ihn versorgt. Generell ist die Versorgung aber schlecht. Wir haben eine Bevölkerung, die auf niedrigem Niveau überlebt und einen kleinen Teil, der ein gutes Leben führt.
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