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Die Neoliberalen sind zurück

Lateinamerikas Linksregierungen sehen sich einer Offensive der Neuen Rechten und einer Politik der »intelligenten Macht« der USA ausgesetzt

  • Dieter Boris und Achim Wahl
  • Lesedauer: 8 Min.

Lateinamerika machte sich Anfang des 21. Jahrhunderts auf die Suche nach Alternativen zum Neoliberalismus. Sie begann mit dem Aufstand der Zapatisten 1994 im Lakandonischen Urwald, führte über die Weltsozialforen bis hin zur Einführung des partizipativen Bürgerhaushalts in Porto Alegre (2001). 1990 entstand das São-Paulo-Forum linker Parteien Lateinamerikas. Politische und soziale Bewegungen begannen, die politische Hegemonie des Neoliberalismus infrage zu stellen. Wahlsiege führten zur Bildung von Linksregierungen. Der Ausbruch der Krise 2007/2008 in den USA zwang die Länder der kapitalistischen Zentren, wichtige Schwellenländer, unter anderem Brasilien, in die Versuche, die Krise zu lösen, einzubeziehen. Die Krise des neoliberalen Finanzmarktkapitalismus schien die Dominanz des Kapitalismustyps der Zentren zu relativieren, wobei sich in anderen Weltregionen, auch in Lateinamerika, Varianten kapitalistischer beziehungsweise staatskapitalistischer Wirtschaften stärker - teilweise unter politischer Führung von Linksregierungen - entfalteten.

Die Linksregierungen

Die jüngsten Rechtstendenzen in Argentinien, Venezuela und Brasilien werfen die Frage auf, warum sich die Linksregierungen in Lateinamerika gegenwärtig offenkundig in einer Defensivposition - bis hin zur Verdrängung - befinden.

Die Beantwortung macht einen Rückblick erforderlich. Der Neoliberalismus verschärfte die sozialen Ungleichheiten, eröffnete dem Kapital mehr Möglichkeiten der Kapitalakkumulation und bewirkte eine starke Fragmentierung der Arbeiterklasse. Träger der Mobilisierungen gegen die Folgen neoliberaler Politik wurden soziale Bewegungen. Ihre Dynamik erhielten sie aus dem Widerstand in ihren Kommunen, aus lokalen Aktivitäten oder aus der Frauenbewegung und dem Kampf um Menschenrechte und als Umweltbewegungen. Entstanden als auf konkrete Ziele gerichtete Bewegungen im Widerstand gegen neoliberale Praktiken, politisierten sie sich zunehmend und erkannten die Notwendigkeit der Formierung neuer politischer Instrumente wie in Ecuador mit der Bildung der Pachakutik, in Bolivien mit der Bewegung zum Sozialismus (MAS) und in Venezuela mit der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV).

Gewonnene Wahlen schufen die Möglichkeit, Regierungen, auch Koalitionsregierungen wie in Brasilien, zu bilden. Der Rechts-, Sicherheits- und Militärapparat oder der ökonomische Bereich wurden nicht angetastet.

Die sozialen Bewegungen bewiesen ihre Fähigkeit, neue Wege zu gehen. Aber historische Transformationsprozesse brauchen Zeit. Fünfzehn Jahre Linksregierungen sind ein kurzer Zeitraum. Es eröffnete sich ein »Zeitfenster«, von dem Valter Pomar (ehemaliger Exekutivsekretär des São-Paulo-Forums) sagte, dass »es durch die hegemoniale Linke genutzt werden muss oder sie diese Möglichkeit verliert.«

Die Entwicklung in einzelnen Ländern Lateinamerikas - abgesehen von übergreifenden Elementen wie Kampf gegen die Armut, Vertiefung der Demokratie, Sicherung der nationalen Unabhängigkeit - ging unter kapitalistischen Bedingungen unterschiedliche Wege. Die verfassunggebenden Prozesse in Venezuela, Bolivien und Ecuador waren ein Schritt zu einer Demokratie von unten, in der sich soziale Bewegungen zeitweise als hegemoniale Akteure empfinden konnten. Das geschah in heftiger Auseinandersetzung mit alten Strukturen und Kräften. Insofern sind diese Prozesse nach vorne hin offen und nach wie vor reversibel.

Die Linksregierungen verzeichneten Erfolge bei der Realisierung von Sozialprogrammen. Die erforderlichen Mittel wurden aus den Einnahmen des Rohstoffexportes erzielt, so dass die Wirtschaftsmodelle der post-neoliberalen Politik im Wesentlichen die herkömmliche Einbindung der Länder Lateinamerikas in die Arbeitsteilung der Weltwirtschaft fortsetzten. Das erwies sich als Entwicklungsfalle, da dieses Modell zu keinen strukturellen Veränderungen führte und weitergehende wirtschaftliche und politische Reformen ausblieben. Widersprüche, wie in Brasilien entstanden, da einerseits dreißig Millionen Menschen aus der tiefsten Armut geholt wurden, aber andererseits die Reichen immer reicher wurden.

Die soziale Inklusion durch die Realisierung von Sozialprogrammen war nicht mit der Überwindung der kapitalistischen Grundlagen der Gesellschaft verbunden. Sie sind unter anderen politischen Bedingungen auswechselbar, beziehungsweise können, wie Argentinien aktuell zeigt, eingestellt werden.

Die Linksregierungen favorisierten ein Entwicklungsmodell einer moderaten Transformation. Wachsender Widerstand in der Bevölkerung und zunehmende wirtschaftliche Schwierigkeiten (Verfall der Rohstoffpreise) zeigten, dass dieses Modell an seine Grenzen stößt. Offensichtlich sind darin Ursachen für die Schwierigkeiten der Linksregierungen zu suchen.

Probleme des Transformationsprozesses

Im Transformationsprozess veränderte der lateinamerikanische Kapitalismus seinen Charakter. Die wirtschaftlichen Eliten durchliefen Etappen einer »Modernisierung«, die zu ihrer stärkeren Integration in den globalen Finanzmarktkapitalismus führte. Beispiel dafür ist die Verschmelzung der Latifundisten mit dem Bankkapital zur Agrarbourgeoisie (Agrobusiness), eine Fraktion der Bourgeoisie die eng mit den auf Rohstoffexport orientierten Oligarchien verbunden ist. Die Fraktion der internen Bourgeoisie, ging sowohl in Brasilien wie auch in Argentinien einen zeitweiligen »Stillhalte-Pakt« mit den Linksregierungen ein und tolerierte sie. Das zwang die Linksregierungen zu Zugeständnissen, die - vor allem in längeren ökonomischen Rezessionsperioden - zum Abschmelzen ihrer Wählerbasis führten.

Ähnlich entwickelte sich eine Allianz der bolivianischen Regierung mit den Transnationalen Unternehmen und dem Finanzsektor. Nach der Nationalisierung strategischer Rohstoffe (Gas, Erdöl) nahm der bolivianische Staat das Achtfache an Finanzmitteln zur Realisierung sozialer Maßnahmen ein. Gleichzeitig verdreifachten sich aber auch die Gewinne der Transnationalen (Repsol, Petrobras). Der private Finanzsektor erhöhte seine Gewinne von 43 Millionen Dollar 2005 auf 283 Millionen Dollar im Jahre 2014.

Generell veränderte sich ebenfalls die soziale Basis der Linksregierungen. In Venezuela entstand rund um die PSUV eine »Boli-Bourgeoisie«, die vom bolivarischen Prozess profitierte und vor Korruption nicht gefeit war. Diese Erscheinung diskreditierte den bolivarischen Prozess und ist eine der Ursachen für die aktuellen Entwicklungen.

Der soziale Aufstieg bestimmter Schichten führte nicht zwingend zur Erhöhung ihres politischen Bewusstseins. Funktionäre der brasilianischen Arbeiterpartei (PT) und der Gewerkschaft CUT meinen, dass ihre »Mission mit der Verbesserung der sozialen Lage und ihrer eigenen Besserstellung« erfüllt sei.

Bolivien verzeichnet die Entstehung einer Kleinbourgeoisie und einer Mittelschicht indigener Bevölkerung, die ethnisch/familiär vernetzt sind und den informellen Handel wie auch den Transportsektor und Bergbaugenossenschaften dominieren.

Der periphere, abhängige Kapitalismus veränderte sich. Es vollzog sich eine Differenzierung innerhalb der herrschenden Klassen wie auch der Mittelschichten. Soziale Bewegungen wurden teilweise durch die Linksregierungen kooptiert, was ihre politische Basis schwächte.

Selbst die Linksregierungen veränderten sich und erlagen den Herausforderungen der Regierungstätigkeit (Bürokratisierung, autoritäre Tendenzen). Die Art und Weise des Regierens entsprach im Wesentlichen denen der bürgerlichen Parteien. Entstandene Allianzen linker Kräfte mit Fraktionen der Wirtschaftseliten führten zur Schwächung linker Kräfte sowohl in den Regierungen wie auch an der Basis. Neue Reiche und Technokraten verteidigen ihren Status und betrachten sich als Gewinner. Die Schwäche der Linksregierungen ermöglichte den Aufstieg und die Bündelung rechter Kräfte, die noch vor kurzem heillos zerstritten und diffus waren.

Die Neue Rechte

In einer politisch veränderten Situation mussten sich die alten Eliten in ihrem Wirken gegen Linksregierungen umstellen. Mit »konstitutionellen Putschen« wurden in Honduras 2009 Präsident Mel Zelaya und 2012 Präsident Fernando Lugo in Paraguay gestürzt, so auch aktuell in Brasilien der Putsch gegen Präsidentin Dilma Rousseff. Nicht demokratisch gewählte Organe wie Gerichte, Staatsanwälte und Polizei verwandeln sich in Exekutoren einer rechten Politik innerhalb der Staatsapparate. Mit Hilfe der Medien werden im Interesse der konservativen politischen Eliten Kampagnen gegen ungeliebte Personen und die Regierungen realisiert.

Diese Rechte erhält massive Unterstützung aus der traditionellen Mittelklasse und sogar aus bestimmten subalternen Sektoren. Charakteristisch für sie ist ihre konservative Haltung. Der Wähler der Mittelschicht sieht seine Stimme als eine Ware. Kulturell wird er damit durch die Konsumgesellschaft geprägt und ist im Sinne der neoliberalen Ideologie individualistisch orientiert. Soziologische Untersuchungen zeigen, dass die Unterstützer neoliberaler Modelle in Lateinamerika rund 35 bis 40 Prozent der Wähler ausmachen.

Das Vorgehen der neuen Rechten ist rücksichtslos. Alles, was sich ihr in den Weg stellt, wird weggefegt. Der neue Präsident Argentiniens Mauricio Macri agiert in diesem Sinne. Parallelen zu Argentinien zeichnen sich jetzt in Brasilien ab. Die »Regierung« Temer verändert Arbeitsgesetze und setzt demokratische Errungenschaften in Brasilien außer Kraft.

Das rasante Anwachsen evangelikaler Sekten erklärt sich aus den Schwierigkeiten der sozialen Bewegungen, die Menschen zu mobilisieren. Die Argumente der Evangelikalen finden Nährboden in den benachteiligten Schichten. Unterstützt werden sie durch die Brüder Koch (USA), die dort Förderer der Tea- Party-Bewegung sind.

Die USA sind in Lateinamerika zurück

In der Außenpolitik der USA gegenüber Lateinamerika geht eine Veränderung vor. Nach dem Teilrückzug der USA aus Afghanistan und dem Nahen und Mittleren Osten wird den Entwicklungen in Lateinamerika mehr Aufmerksamkeit geschenkt, ohne allerdings zu vergessen, dass die USA den Kontinent nie aus den Augen verloren haben. Auf die verstärkte Präsenz Chinas und Russlands und die zunehmende internationale Bedeutung Brasiliens und Argentiniens musste die Obama-Administration reagieren. Ende 2014 unternahm Präsident Obama mit der Verbesserung der Beziehungen zu Kuba den ersten Schritt, dem inzwischen die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen und im März 2016 sein Besuch in Kuba folgten. Der sich anschließende Besuch in Argentinien verdeutlichte, dass er der Unterstützung des Präsidenten Macri galt, der mit der Forderung, Venezuela aus dem Mercosur auszuschließen, eine offen gegen Venezuela gerichtete Politik betreibt.

Mit der Normalisierung der Beziehungen zu Kuba versuchen die USA, verlorenes Terrain in Lateinamerika zurück zu gewinnen. Diese Politik richtet sich aber auch gegen das Schwellenländerbündnis BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), in dem Brasilien eine bedeutende Rolle spielt. Das Streben der USA war immer darauf ausgerichtet, Brasilien als Partner zu haben oder wenigstens Brasiliens Einfluss in Lateinamerika zu neutralisieren. Die Erklärungen der Putsch-Regierung Temer lassen vermuten, dass diese sich der USA annähern wird, obwohl deren Reaktion auf das Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Rousseff noch verhalten ausfiel. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht deshalb eindeutig Brasilien. Zu erwarten ist, dass die USA mit ihrer Politik der »smart power« (»intelligenten Macht«) ihre Positionen in Lateinamerika zu stärken versuchen wird. Die USA werden mit diplomatischen Mitteln, verstärktem wirtschaftlichen Einfluss und der Unterstützung »legaler demokratischer Manöver« der traditionellen Eliten in Lateinamerika den Linksregierungen weiterhin das Leben so schwer wie möglich machen.

Dieter Boris ist emeritierter Professor am Institut für Soziologie an der Philipps-Universität in Marburg. Er beschäftigt sich seit der Regierung Salvador Allendes von 1970 bis 1973 in Chile mit linken Perspektiven in Lateinamerika.

Achim Wahl ist Lateinamerika-Experte und insbesondere Brasilien-Kenner. Er war von 2003 bis 2004 erster Büroleiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Südkegel (Cono Sur) Südamerikas in São Paulo.

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