Blitz-, Stein- und Anschlag
Christoph Ruf über das Fehlen von Paranoia in der Stadt der Liebe kurz vor der EM
Aus Angst vor einem Unwetter – man liest ja so allerhand in diesem Internet – sind in der vergangenen Woche die Bundesjugendspiele in unserer kleinen Stadt ausgefallen. Es hat dann allerdings nicht einmal getröpfelt.
Am gleichen Tag las ich in der Lokalzeitung in unserer kleinen Stadt von einer Radtour ins bergige Umland. Fast hätte ich mich angemeldet, doch dann kam dieser letzte Satz. »Es besteht Helmpflicht«, stand da. Dann verwischten die Buchstaben jedoch ein wenig, weil ich im Affekt einen kleinen Schwall Kaffee auf die entsprechende Zeitungsstelle geprustet hatte.
Fahrradhelme gehören neben Krawatten zu den zwei Dingen, die ich noch nie in meinen Leben getragen habe. Und daran wird sich auch dann nichts ändern, wenn irgendein Gesundheitspolitiker demnächst auf die Idee kommen sollte, auch das Zu-Fuß-Gehen unter den Vorbehalt zu stellen, dass der todesmutige Flaneur sich vor Blitz-, Stein- und Anschlag mit allen erdenklichen Materialien zu schützen habe. Im Grunde wäre da auch nur folgerichtig, schließlich sind gemäß Gesetz seit einigen Monaten in fast allen Bundesländern flächendeckend Rauchmelder in allen Räumen aller Mietwohnungen installiert. Erst jetzt kann ich wieder ruhig schlafen – allerdings sicher in einem nicht ganz so vornehmen Gemach wie die Typen, deren Firmen diese Rauchmelder herstellen. Hätte es noch eines Beweises bedurft, dass es einigen in diesem Land viel zu gut geht, er wäre hiermit erbracht.
Vor zwei Wochen war ich dann mal für ein paar Tage in Paris, immerhin der Stadt, die angeblich vom internationalen Terror zum Hauptanschlagsziel erkoren ist. Und siehe da, Fahrradhelme oder Regenwolken interessieren die Menschen dort kein Stück, und interessanterweise scheint das auch für die Angst vor Anschlägen zu gelten.
Spricht man Pariserinnen und Pariser auf das weitgehende Fehlen von Paranoia und Hysterie an, erntet man erstaunte Blicke. Ob da jemand tatsächlich so naiv ist zu glauben, dass man sich vor den Gefahren des Lebens schützen kann? Ob da tatsächlich jemand meint, er werde glücklicher, wenn er in allem und jedem nur noch die mögliche Bedrohung sieht?
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