Blind für rassistische Gewalt
Amnesty International kritisiert, dass deutsche Strafverfolgungsbehörden zu wenig aus dem NSU-Versagen gelernt haben
Es reichte bereits aus, dass Hussein T. mit seinem Stuhl in einem Café versehentlich gegen die Bank seiner Tischnachbarn stieß. Das darauf sitzende Paar nahm diese Bagatelle zum Anlass, auf den jordanischen Studenten einzuschlagen und ihn als »Scheiß Ausländer« zu beschimpfen. Die Frau rief daraufhin »Heil Hitler« und hob den rechten Arm. Trotzdem war die Polizei nicht bereit, den Angriff als rassistisch einzustufen. Sie versäumte es sogar, unverzüglich eine Aussage des Opfers aufzunehmen und die Aussagen von Zeugen festzuhalten. In der Anklage der Staatsanwaltschaft gegen das Paar wurden die rassistischen Beleidigungen zwar erwähnt, aber nicht als Indiz für das Tatmotiv gewertet, weil sie erst nach dem Angriff geäußert wurden.
Diesen Fall, der sich im September 2014 in Bayern abspielte, und ähnliche hat Amnesty International in der jüngeren Vergangenheit dokumentiert. Bei der Präsentation der Ergebnisse in Berlin warf die Generalsekretärin der Menschenrechtsorganisation in Deutschland, Selmin Caliskan, den Strafverfolgungsbehörden wegen ihrer Ignoranz gegenüber rassistischen Verbrechen vor, »aus ihrem Versagen beim NSU-Komplex wenig gelernt« zu haben. Den Opfern der rechtsradikalen NSU-Mordserie waren zunächst kriminelle Verbindungen unterstellt worden. Besonders gelitten haben darunter die Angehörigen der Opfer, die von den zuständigen Polizisten wie Verdächtige behandelt wurden.
Untersuchungsausschüsse zum NSU auf Bundes- und Landesebene haben sich mit den Behördenfehlern beschäftigt und Schlussfolgerungen vorgelegt. Amnesty lobte, dass wichtige Empfehlungen umgesetzt wurden. Vergangenes Jahr wurden Gerichte durch eine Änderung des Strafgesetzbuches explizit verpflichtet, mögliche »rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende Motive« bei der Strafzumessung zu berücksichtigen.
Doch aus Sicht der Menschenrechtsorganisation reicht dies nicht aus. Denn die Ausschüsse haben sich zu wenig mit dem institutionellen Rassismus als Ursache für das Versagen der Strafverfolgungsbehörden beschäftigt. Es ist nicht zu erwarten, dass der Ende 2015 eingesetzte zweite NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags dies umfassend nachholen wird. Deswegen forderte Amnesty die Bundesregierung dazu auf, von unabhängigen Stellen untersuchen zu lassen, inwieweit institutioneller Rassismus bei den Strafverfolgungsbehörden, vor allem der Polizei, verbreitet ist. Das bedeutet nicht, dass dort alle Mitarbeiter Rassisten sind. Caliskan sieht vielmehr unbewusste Vorurteile, Nichtwissen und Gedankenlosigkeit als Ursachen.
Ein Blick auf die nackten Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik zeigt, dass das Problem rassistischer Gewalt rasant zunimmt. Die meist rechten Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte stiegen von 199 im Jahr 2014 auf 1031 Straftaten im Jahr 2015. Der Meldedienst verzeichnet für 2015 vier versuchte Tötungsdelikte, 60 Körperverletzungen, 94 Brandstiftungen und acht Sprengstoffdelikte. In den ersten vier Monaten dieses Jahres erfassten die Behörden nach vorläufigen Zahlen mehr als 4600 rechtsmotivierte Straftaten. Im ersten Quartal zählte die Polizei fast 350 Angriffe gegen Asylunterkünfte.
Amnesty kritisierte, dass der deutsche Staat Flüchtlinge und andere People of Color unzureichend schütze und damit seine menschenrechtlichen Verpflichtungen vernachlässige. Caliskan forderte die Innenministerkonferenz, die sich nächste Woche im Saarland trifft, dazu auf, ein bundesweites Konzept zum Schutz der Einrichtungen zu entwickeln. Darin müsse festgelegt werden, dass örtliche Polizeibehörden immer vorab über die Einrichtung neuer Flüchtlingsunterkünfte informiert werden. Zudem sei eine verpflichtende polizeiliche Überprüfung der Mitarbeiter von Sicherheitsdiensten notwendig.
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