Was normal ist und was nicht

Die EURO beginnt. Die Pariserinnen und Pariser versuchen, sich mit Notstandsgesetz und Militärpräsenz abzufinden

Längst haben sich die Franzosen an den Notstand gewöhnt, den die Regierung erstmals seit 1955 wieder landesweit verhängt hat. Die EM, die am Freitag beginnt, verändert ihren Alltag nur noch bedingt.

Es ist Nacht in Paris. Die Straßen sind leer, die Ampel zeigt Grün. Trotzdem heißt es warten: Zwei Polizeifahrzeuge stehen mit Blaulicht an der Kreuzung. »Willkommen in Paris«, sagt Julie, die am Steuer sitzt. Sie lacht. An den Ausnahmezustand in ihrer Heimatstadt hat sie sich längst gewöhnt. Fast sieben Monate dauert er an - nach den Attentaten im vergangenen November mit 130 Todesopfern am Tag des Fußball-Länderspiels zwischen Frankreich und Deutschland.

Plötzlich, ohne dass etwas passiert wäre, erlischt das Blaulicht und die Einsatzwagen fahren in gemessenem Tempo davon. Der Verkehr ist anscheinend wieder frei. »Oui«, sagt Julie mit einem Achselzucken. Ihr »Ja« klingt so selbstverständlich wie es der Ausnahmezustand ist, der für die Pariser Normalität geworden ist. Julie ist Anfang 30, hat eine kleine Bar im Nordosten der Stadt und eine kleine Wohnung im Westen. Gendarmen mit Maschinengewehren auf der Straße, Militär vor öffentlichen Gebäuden und Schulen, Polizisten mit schusssicheren Westen auf Bahnhöfen - all das nimmt Julie auf ihren Wegen durch die Stadt nicht mehr wirklich wahr. Freunden und Bekannten gehe es ähnlich, erzählt sie. Dass die Präsenz der Armee in der Öffentlichkeit nach den Anschlägen von Brüssel im März landesweit um 1600 Soldaten verstärkt wurde, ist Julie auch nicht aufgefallen.

Spätestens ab Freitagabend wird in Frankreich nur noch wenig normal sein. Dann beginnt im Stade de France die Fußball-Europameisterschaft mit dem Eröffnungsspiel der Gastgeber gegen Rumänien - in eben jenem Stadion, das am 13. November 2015 eines der Ziele der Terroranschläge war. »Ein einzigartiges Ereignis wie die EM unter so außergewöhnlichen Umständen erfordert zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen«, sagte der französische Innenminister Bernard Cazeneuve kürzlich.

Sieben bis acht Millionen Fußballtouristen erwartet Frankreich, die 51 Spiele in den zehn EM-Stadien werden insgesamt 2,5 Millionen Menschen besuchen. Rund 100 000 Sicherheitskräfte werden aufgeboten, drei Viertel davon stellen Polizei und Gendarmerie, den Rest die Armee und private Sicherheitsdienste. Allein in Paris sind es 13 000.

Am Stade de France in Saint-Denis ist eindrucksvoll zu beobachten, wie sehr sich die Situation seit November in Paris verändert hat. Ein zwei Meter hoher Zaun umringt jetzt das ganze Areal. Seit ein paar Wochen gelangt man nur noch mit einer entsprechenden Zugangsberechtigung hinein. »Non!« Die Ordner lassen sich am Mittwoch nicht erweichen. Trotz Akkreditierung kein Einlass. Das falsche Tor. Der Weg zur gegenüberliegenden Seite ist lang. Gleich beginnt die Eröffnungspressekonferenz des EM-Turniers, die Schritte werden schneller.

Nachdem Metalldetektoren, Röntgenstrahlen und Ordnerhände Gepäck und Mensch geprüft haben, ist es geschafft. Gerade noch rechtzeitig, um den französischen EM-Chef Jacques Lambert zu hören. Er erläutert das »doppelte Sicherheitssystem«, das für alle Stadien und Fanzonen in den Städten gilt. Zwei Kontrollkreise sind um jedes Areal gezogen. Beim ersten Sicherheitscheck sucht die Polizei nach allem Verbotenen, beim zweiten werden die Besucher erneut von Ordnern überprüft. Für all seine Sicherheitsmaßnahmen musste der europäische Fußballverband UEFA, der nur für die Stadien verantwortlich ist, 34 Millionen Euro investieren. Die UEFA hatte nicht genug Geld, um die EM gegen den Ausfall aufgrund von Terroranschlägen zu versichern. »Nach den Attentaten von Paris im November sind die Prämien unbezahlbar gewesen«, sagt Martin Kallen. Der EM-Organisationschef von der UEFA sitzt an diesem Mittwoch neben Lambert auf dem Podium.

Jacques Lambert versucht, Optimismus zu verbreiten. »Wir haben keine Hinweise auf eine spezifische Bedrohung von Spielen oder Stadien«, sagt er und versichert: »Wir haben alles dafür getan, um die bestmögliche EM für alle zu organisieren.« Garantien wie sie Frankreichs Staatspräsident Francois Hollande noch vor vier Monaten gab (»Wir werden maximale Sicherheit haben«), spricht kurz vor dem Turnierstart niemand mehr aus.

Die Terrorwarnungen aus dem Ausland beschreibt Lambert als »Sicherheitsmaßnahmen«. Jedes Land wolle seine Bürger vorher gewarnt haben. Folgende Zeilen veröffentlichte beispielsweise das US-Außenministerium: »Wir machen die US-Bürger auf das Risiko möglicher terroristischer Attacken innerhalb Europas aufmerksam, die Großevents, touristische Stätten, Restaurants, Einkaufszentren und Transportmittel zum Ziel haben. Die EM-Stadien, die Fanmeilen und andere Stätten, an denen die Spiele öffentlich übertragen werden, stellen potenzielle Ziele für Terroristen dar.« Das Bundeskriminalamt warnte in seinem »Gefährdungslagebild« vor »islamistischen Anschlägen vor allem auf symbolträchtige Ziele.« Auch einzelne Fußballteams seien gefährdet. »Ein erfolgreicher Anschlag auf Mannschaften von ›Kreuzfahrernationen‹, zu denen Deutschland ebenfalls gezählt wird, hätte dabei besondere Symbolwirkung.«

Auf Informationen ausländischer Geheimdienste können Jacques Lambert und sein Organisationskomitee nicht zurückgreifen. Mit dem französischen Dienst Direction générale de la Sécurité intérieure (DGSI) stehe man aber immer in Verbindung. Dessen Chef Patrick Calvar beschrieb am 10. Mai vor dem Verteidigungsausschuss der Nationalversammlung eine allgemeine Bedrohungslage: »Wir wissen, dass der IS neue Anschläge plant.« Terroristen hätten es darauf abgesehen, Sprengsätze an Orten mit großen Menschenansammlungen zu platzieren, so Calvar.

Ein solcher Ort wäre das Stade de France - auch wegen des neuen Sicherheitssystems: Die 80 000 Besucher sollen durch nur vier Eingänge das riesige Stadion betreten. Dort ist dann durch die verschärften Sicherheitskontrollen mit noch längeren Wartezeiten zu rechnen - ein zusätzliches Risiko.

Befragt zu den Vorfällen beim französischen Pokalfinale vor drei Wochen, sagt der Chef des EM-Organisationskomitees, es seien dort »nicht alle für das Turnier geplanten Sicherheitsmaßnahmen angewendet« worden. Beim Spiel zwischen Paris Saint-Germain und Olympique Marseille hatten Fans es geschafft, Rauchbomben, Flaschen und Plastikrohre mit ins Stadion zu bringen. Die damalige Rechtfertigung von Philippe Galli, Präfekt des Departements Seine-Saint-Denis, stimmt mit Blick auf sechs weitere Partien im Stade de France nicht sehr zuversichtlich: »Vermutlich waren die Sicherheitsleute vom Andrang der Fans überfordert.

Die Europameisterschaft hat Frankreichs Regierung zum Anlass genommen, den Ausnahmezustand zum dritten Mal zu verlängern. Er gilt nun bis zum 24. Juli. An diesem Tag beenden die Radprofis die Tour de France in Paris. «Die Terrorgefahr ist so hoch wie noch nie», begründete Innenminister Bernard Cazeneuve im Februar die erneute Verlängerung. Kritiker nennen das Frankreich von 2016 hingegen einen «Polizeistaat».

Amnesty International stufte die Reaktionen Frankreichs auf die Attentate des Novembers als «freiheitsbedrohend» ein. Denn der Notstand erlaubt dem Staat sehr viel mehr als nur Verkehrsbeeinträchtigungen. Es können Schutzzonen eingerichtet und Zutrittsverweigerungen ausgesprochen, Ausgangssperren verhängt sowie Versammlungs- und Demonstrationsverbote erlassen werden.

Auch die Schließung von Versammlungsstätten wie Kinos oder Gaststätten ist vorgesehen. Für Hausdurchsuchungen braucht es keinen richterlichen Beschluss. Mehr als 3500 dieser nur behördlich angeordneten Durchsuchungen gab es seit November. Bei der Präsentation von Ergebnissen bleibt die Regierung vage. Terrornetzwerke seien außer Gefecht gesetzt oder geschwächt, Anschlagspläne vereitelt worden, berichtete Premierminister Manuel Valls.

Die Kontrolle über alle Publikationen spart das aktuelle Dekret zwar aus. Aber allein die Möglichkeit zeigt, welche Züge der derzeitige Zustand des Landes hat. Und sie zeigt, dass er alles andere als normal ist. Der Ausnahmezustand wird in Frankreich nach dem Notstandsgesetz Nr. 55-385 vom 3. April 1955 verhängt, das während des Algerienkrieges erlassen wurde. Er findet jetzt erstmals wieder im ganzen Land Anwendung. «Wir sind im Krieg!», sagte Premierminister Valls nach den Anschlägen im November.

Die Intention der Regierung machte Innenminister Cazeneuve recht deutlich. Der Ausnahmezustand erlaube eine leichtere Abschiebung derjenigen, «die abgeschoben werden müssen, weil sie in Frankreich Hass predigen, weil sie unter Terrorverdacht stehen oder an Terrorakten beteiligt waren». Premier Valls sagt, er wolle «alle Mittel einsetzen, bis die Terrormiliz Islamischer Staat besiegt ist». Es ist ein Krieg, der nicht gewonnen werden kann. Zumindest nicht in Paris, wie auch in anderen europäischen Städten nicht. Verloren ist er schon, wenn man dafür die eigene Freiheit per Notstandsgesetz opfert.

«Natürlich», sagt Julie, «werde auch ich mich nie an all das gewöhnen können». Und sie sei froh, dass Präsident Hollande Ende März sein Vorhaben aufgeben musste, den Ausnahmezustand in die Verfassung aufzunehmen, um so Ausbürgerungen möglich zu machen. Manchmal ärgert sich Julie über sich selbst. Wenn zum Beispiel der tägliche Stress sie dazu bringe, den Notstand als Alltag anzunehmen. Gleich im nächsten Moment ärgert sie sich über ihre Landsleute. Mehrere Umfragen hätten ergeben, dass die überwiegende Mehrheit die Maßnahmen der Regierung befürwortet. Weil diese ja nicht gegen sie selbst, sondern gegen Terroristen gerichtet seien.

Und Fußball? Das interessiert Julie nun wirklich nicht, nicht mal während der EM im eigenen Land. Sie fährt in den nächsten Tagen lieber ihre Mutter in Brüssel besuchen. Danach geht’s mit Freunden zum Camping nach Nimes. Vorfreude auf das Turnier, geschweige denn Begeisterung, ist in Paris noch nicht wirklich zu erleben. Vielleicht liegt es ja auch am Ausnahmezustand, der für viele zur Normalität geworden ist.

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