Nicht mehr die Rasse zählt, sondern die Klasse

Der südafrikanische Bildungsexperte Salim Vally über den Schüleraufstand von Soweto vor 40 Jahren und die aktuelle Situation an den Schulen und Universitäten seines Landes

  • Lesedauer: 6 Min.

Vor 40 Jahren haben die Schüler in Soweto gegen Afrikaans als Unterrichtssprache und für einen fairen Zugang zu Bildung protestiert. Heute protestieren die Studenten gegen Gebühren an den Universitäten. Ist das an sich bereits ein Fortschritt?
Es ist wichtig, sich die Ursachen dieser Proteste anzusehen, ob 1976 oder heute. Afrikaans war damals ein Katalysator für den Aufstand von Soweto, aber es gab bereits eine Atmosphäre der Revolte. Es war die Zeit der Freiheitskämpfe in Namibia, in Angola, in Mosambik oder in Simbabwe. Hinzu kam die Situation in den südafrikanischen Townships, die Überbevölkerung, die großen Klassenstärken in den Schulen, ein autoritäres Unterdrückungssystem mit Prügelstrafe - als dann Afrikaans als Unterrichtssprache eingeführt werden sollte, hat das natürlich die Frustration und die Wut gesteigert. Ein weiterer Faktor war die Formierung des Black Consciousness Movement. Die anderen Befreiungsbewegungen, der ANC, der PAC, waren ja verboten. Dieses Vakuum hat das Black Consciousness Movement gefüllt, trotz der brutalen Repression durch den Staat. Das war damals die Atmosphäre.

Heute, 22 Jahre nach den ersten Wahlen, haben sich die Versprechungen von einem besseren Leben für alle, von Arbeitsplätzen und guter Bildung, nicht erfüllt. Der Kontext ist ein anderer, die Probleme sind andere, aber der Grad der Entfremdung, der Frustration und der Wut ist sehr ähnlich. Ich will damit nicht sagen, dass keine realen, greifbaren Fortschritte gemacht worden sind. Die wurden natürlich gemacht. Die Qualität der Bildung hat sich definitiv geändert. Man kann das, was wir heute haben, nicht mit dem vergleichen, was wir zu Apartheidzeiten hatten. Es gibt mehr Ressourcen, aber wir haben noch einen weiten Weg vor uns. Die Klassen sind zu groß, wir haben zu wenige Bibliotheken.

Zur Person

Salim Vally ist Professor im Fachbereich Bildung an der Universität Johannesburg. Er leitet dort das Zentrum für Bildungsrechte und gesellschaftlichen Wandel (Centre for Education Rights and Transformation).

Was hat sich denn verändert?
Es wäre töricht zu sagen: Es hat sich nichts verändert. Die Rassengesetze sind abgeschafft. Ein Kind kann heute auf jede Schule gehen, auf die es will. Eine ganze Menge hat sich verändert. Wenn du Teil der schwarzen Mittelschicht oder des schwarzen Bürgertums bist, sind die Verhältnisse großartig. Deine Kinder können auf eine Privatschule gehen, die hohe Gebühren verlangt und bestens ausgestattet ist. Aber wenn du Teil der schwarzen Arbeiterklasse bist, oder übrigens auch Teil der weißen Arbeiterklasse, dann gehen deine Kinder auf eine öffentliche Schule, die keine ausreichenden Ressourcen hat. Was sich geändert hat, ist, dass nicht mehr die Rasse zählt, sondern die Klasse. Das ist die Veränderung.

Die Regierung spricht davon, dass heute jeder eine faire Chance bekommt, in diese Mittelschicht aufzusteigen.
Die Regierung will einen Konsens schaffen. Der Philosoph Antonio Gramsci hat Hegemonie, Konsens und Ideologie beschrieben: Die Sichtweise der Führungsschicht wird zur Konsenssichtweise der Gesellschaft. In Südafrika haben wir eine wirklich gute liberale, demokratische Verfassung, aber sie bleibt farblos, denn darin wird eine Konsensgesellschaft angestrebt. Die Realität ist jedoch, dass wir eine auf Klassen basierende Gesellschaft haben. Manche sind gleicher als andere in einer neoliberalen Gesellschaft wie in Südafrika. Abhängig davon, wie viel Geld man hat, kann man sich aus den Problemen herauskaufen, vor denen arme Menschen stehen. Das entscheidet, wo man lebt, auf welche Schule man geht, welchen Zugang zu rechtlicher Unterstützung man hat, welche Gesundheitsversorgung man bekommt - et cetera, et cetera. In der Verfassung steht, jeder ist gleich vor dem Gesetz, es gibt keine Diskriminierung, aber zu Klassendiskriminierung steht darin nichts.

Aber der Staat interveniert doch. Die neuen Schulen werden nicht im Börsenviertel Sandton gebaut, sondern auf dem Land oder in Townships wie Soweto. Es gibt gebührenfreie Schulen in armen Gemeinden. Ist das kein Versuch, das Problem anzugehen?
Ersten glaube ich, dass Bildung ein öffentliches Gut ist. Es darf nicht zur Ware gemacht werden. Wir zahlen Steuern, selbst Arbeitslose zahlen Mehrwertsteuer. Wir haben hart gekämpft für kostenlose Bildung, denn Bildung ist ein Menschenrecht. Heute ist die Mehrheit der Schulen im Land gebührenfrei. Doch es gibt viele Kosten, für die die Eltern aufkommen müssen, für Transport, Uniformen, Materialien und so weiter. Natürlich baut der Staat Schulen, aber das ist seine Verantwortung. Der Punkt ist: Es kann viel mehr getan werden, als gemacht wird. Die Ausrede ist, dass wir nicht genug Geld hätten, aber das ist äußerst strittig. Es scheint zumindest keine Budgetrestriktionen bei den riesigen Ausgaben für Waffen oder für die Stadien für die FIFA für die Fußballweltmeisterschaft gegeben zu haben. Wir reden gerade von Billionen Rand für Atomkraftwerke, dafür scheint Geld da zu sein. Es ist eine Frage der Prioritäten. Die Unternehmenssteuern wurden gesenkt, es gibt die Denkweise, dass der Markt es richten soll. Aber der Markt hat versagt, zu Apartheidzeiten und nach 1994.

Was sind denn dann die Bildungschancen eines Kindes, das heute in Soweto aufwächst?
In Soweto sind 60 Prozent der Menschen arbeitslos. Diejenigen, die ein Einkommen haben, sind in der Minderheit. Davon wiederum sind viele arm trotz Arbeit. Die Aussichten sind also trostlos: Du kommst auf eine öffentliche Schule, ohne vernünftige Ausstattung, mit großen Klassenstärken und Lehrern, die nicht gut ausgebildet sind.

Wie stehen die Chancen auf eine Universität zu gehen?
Schlecht. Die Zahl von Studenten, die aus schwarzen Arbeiterklassengemeinden kommen, ist sehr gering. Die Mehrheit der schwarzen Studenten, die Elite-Universitäten besuchen, kommt aus der Mittelschicht. Die große Mehrheit der schwarzen Studenten aus der Arbeiterklasse geht auf Universitäten, die historisch benachteiligt wurden. Die meisten davon sind auf dem Land, sie haben keine gute Ausstattung und wenig Dozenten. Und von diesen Studenten, die es überhaupt auf eine Universität geschafft haben, schließen weniger als 50 Prozent ihren ersten Studiengang ab. Die Mehrheit muss vorher abbrechen, zum großen Teil werden die Studenten aus finanziellen Gründen ausgeschlossen. Die staatliche Unterstützung ist nicht ausreichend. Diese Studenten haben ein extrem schweres Leben, viele von ihnen hungern. Etliche Universitäten mussten bereits Suppenküchen eröffnen. Studenten leben unter Slum-ähnlichen Bedingungen, weil sie kein Geld für eine Unterkunft haben.

Nun ist in schätzungsweise jedem zweiten Wirtschaftsmagazin-Artikel die Rede von der wachsenden Mittelschicht. Gibt es die denn?
Die gibt es. Verglichen mit der Apartheidzeit gibt es zweifellos eine wachsende Mittelschicht. Aber das ist immer noch eine kleine Gruppe. In Südafrika, das liegt in der Natur des Systems, können die Hoffnungen und Bedürfnisse der großen Mehrheit nur durch fundamentale Änderungen der Gesellschaftsstruktur erreicht werden. Sonst verändert man das Leben einer kleinen Minderheit, aber es steigen nicht schrittweise mehr und mehr Menschen in die Mittelschicht auf. Man kann das Gesundheitswesen, die Versorgung mit Wohnraum und das Bildungssystem nicht von anderen Aspekten der Gesellschaft wie der Frage des Besitzes von Reichtum isolieren. Um voran zu kommen, müssen wir eine egalitäre, ausgeglichenere Gesellschaft aufbauen. Die Regierung geht das mit ihrem makroökonomischen Programm und ihren Prioritäten aber nicht an. Deren Politik hält ein System aufrecht, in dem die Reichen reicher werden und die Armen ärmer - trotz der wachsenden Mittelschicht.

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