Franz Kafka trifft Phil Spector

Sicker Man lässt Klänge anschwellen. Und die Strokes gibt es auch noch

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 3 Min.

Kaum zu glauben, aber wahr: Dass die putzigen Wuschelfrisurträger von den Strokes zu den neuen Rock’n’Roll-Heiligen ausgerufen wurden, weil sie den New-York-Punkrock der späten 70er Jahre erfolgreich recycelten und ihn in einer Art geglätteten und cleanen Mitsumm-, Mitwackel- und Mitschunkelvariante neu interpretierten, ist jetzt auch schon wieder 15 Jahre her. Damals posierten die Jünglinge effektvoll in coolen speckigen schwarzen Vintage-Lederjacken und skinny Jeans, und man ahnte seinerzeit dunkel, dass darin - sieht man vom sicheren Halten einer Gitarre einmal ab - möglicherweise ihr Haupttalent besteht.

Der Schriftsteller Sky Nonhoff schrieb vor über zehn Jahren: »Den Strokes, Libertines und Dutzenden von anderen Vertretern des ›Bubenrock‹ (Thomas Mauch) verdankt sich vor allem, dass die halbjährliche ›Rettung‹ des Rock’n’Roll mehr und mehr wie eine Lektion in Leichenkosmetik anmutet.« Nun, die Libertines gibt es wieder, wenn man derzeit auch nicht weiß, wie lange noch, und die Strokes - die es erstaunlicherweise immer noch gibt - haben soeben drei neue Songs auf einer EP und auf der Webseite ihres Labels veröffentlicht. Es kann nach dem Hören festgestellt werden: »Drag Queen« hat einen unheilverkündenden New-Order-Bass und superverwaschenen Gesang. Auch der Text wirkt nicht gerade taufrisch oder originell, eine Art kapitalismuskritische Schülerzeitungslyrik: »I don’t understand / Your fucked-up system / This sinister city / Try to sell the water / Try to sell the air / Try to sell your daughter / Try to sell her hair«. Und »Threat of Joy« klingt, als stamme die Aufnahme aus dem Jahr 2001 und sei damals, als das hübsche Debütalbum der Strokes zusammengeschustert wurde, versehentlich im Studio liegengeblieben. Ein zwingender Grund, warum man heute diese Musik von saturiert wirkenden Gitarrenrockern, die auf die Vierzig zugehen, hören soll, ist nicht zu erkennen. Man kann sich also heute Nonhoffs Urteil aus dem Jahr 2005 anschließen.

Zeitgemäßer, aber auch zeitloser geht es bei dem Berliner Theatermusiker, Multiinstrumentalisten und Songwriter Tobias Vethake zu, der unter dem schönen Namen Sicker Man (etwa: Der kränkere Mann) am laufenden Band Alben produziert, die auf seinem eigenen Kleinlabel erscheinen und bisher leider von kaum jemandem zu Kenntnis genommen werden. Was nicht gerecht ist. Denn auf seinem neuen, von Kafkas Roman »Der Verschollene« inspirierten Album gelingt ihm beispielsweise das Kunststück, kammermusikalische Arrangements und zarte, traurig-bittersüße Popmelodien, zu denen er traurig-introspektive Verse singt, effektvoll in opulente, beeindruckend tosende Wall-of-Sound- und Noise-Kaskaden übergehen zu lassen. Auch sonst ist viel im Angebot, um Phil Spector, sofern dieser noch lebte, neidisch zu machen: Aah-aah-aah-Engelschöre, Glockenspiel, Möwengekreisch, Synthiegeknister, Märchenland-Akustikgitarre, an- und abschwellendes Orchestergeboller und viel anderer Rambazamba.

The Strokes: »Future Present Past EP« (Cult Records/Rough Trade)

Sicker Man: »The Missing« (blankrecords/Broken Silence)

Am 19.6., 20 Uhr, gibt Sicker Man (mit Band) im Roten Salon der Berliner Volksbühne ein Record-Release-Konzert.

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