Salbenblatt ohne Salbe

Siegfried Pitschmann: Seine »Erzählungen aus Schwarze Pumpe« erscheinen erstmals in Originalfassung in einem Band

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Schriftsteller Siegfried Pitschmann schuftete zu Beginn der 1960er Jahre freiwillig in der Knochenmühle des Gaskombinats Schwarze Pumpe in der Lausitz. Seine Erinnerungen daran sind erst jetzt als Buch erschienen.

Ein Mann kommt vom Arzt. Er ist verzweifelt, weil es in seinen Handgelenken knirscht und schmerzt. Rechts eingegipst bis zur Schulter, links Elastikbinde mit Schiene bis zum Ellenbogen. Zu keiner Arbeit mehr fähig, keiner Zärtlichkeit, keinem Tastenspiel. Fast scheint es, als gesellte sich zur Leere in seinem Kopf nun ganz folgerichtig die entsprechende Leere im praktischen Leben. Salbenblatt, so heißt der Mann, kann seine seelischen Wunden nicht länger mit körperlicher Arbeit salben, wie er es in diesen 50er Jahren auf einer der Großbaustellen des Sozialismus in Schwarze Pumpe bei Hoyerswerda probiert hatte. Der schmächtige Klavierspieler suchte die Härte des Bauarbeiterlebens, um sich an ihm zu reiben, seiner Existenz eine neue Richtung zu geben, mit neuen Menschen an seiner Seite. Doch der geschundene Körper verweigert sich der Freundschaft zum Beton ebenso wie der Erziehung zum Helden, keine Salbe hilft mehr.

»Ein Mann namens Salbenblatt« ist eine der »Erzählungen aus Schwarze Pumpe«, die jetzt im AISTHESIS Verlag Bielefeld erschienen sind, fast 50 Jahre nachdem sie vom Autor Siegfried Pitschmann zu Papier gebracht wurden. Pitschmann ist auch so ein Salbenblatt gewesen, der nach dem Scheitern in der Liebe und im Beruf alles hinter sich lassen und ausgerechnet in einer solchen Knochenmühle wie der Baustelle des Gaskombinates in der Lausitz ein neues Leben beginnen wollte. Geboren 1930 in Grünberg, hatte er sich die »Bewährung in der Produktion«, wie man in der DDR formulierte, selbst auferlegt. Er schuftete in »Pumpe« in Zwölf-Stunden-Schichten bis zum körperlichen Aus und schrieb anschließend den Roman »Erziehung eines Helden«, dessen Schilderungen sich zu einem schnörkellosen Bild der Realität fügen, das nichts beschönigt, aber auch niemanden denunziert.

Obwohl der Autor das Werk wieder und wieder überarbeitet, wird es von Schriftstellerfunktionären zerrissen. Das war es nicht, was sich die Leiter und Lenker des jungen Arbeiter- und Bauernstaates so vorgestellt hatten, als sie mit Hilfe einiger Schriftsteller auf einer Konferenz in Bitterfeld den gleichnamigen Weg ins Leben riefen, auf dem Künstler und Arbeiter fortan gemeinsam voranschreiten sollten, um einer Entfremdung zwischen beiden entgegenzuwirken. Arbeiter sollten ermuntert werden, selbst zur Feder zu greifen, und Künstler, sich im Milieu der Produktion umzusehen, um ihre Werke sozialistisch wahrhaftig zu machen. Doch Pitschmann will den Arbeitern der Großbaustelle keine überlebensgroßen Denkmäler setzen, er beobachtet sie genau und beschreibt sie, wie sie eben so sind. Absolut authentisch, wie man heute sagen würde. Man wirft ihm eine harte Schreibweise à la Hemingway vor und bemängelt die Auswahl der Figuren. Unsere Arbeiter seien nicht ständig betrunken, nicht geldgierig und ohne moralischen Halt, wird Erwin Strittmatter als damaliger Vorsitzender des Schriftstellerverbandes auf der ersten Bitterfelder Konferenz in Anspielung auf Pitschmanns Protagonisten sagen. Der Roman bleibt in der Schublade. Lediglich eine Erzählung erscheint 1972 in einer Anthologie.

Auch den Autor zerreißt dieser Misserfolg, zumal er sich als Teil einer Serie herausstellt und andere Lebensbereiche ansteckt. Am Ende begreift Salbenblatt-Pitschmann, dass man niemals von vorne anfangen kann, wie es so schön heißt. Man tauscht vielleicht den Kugelschreiber gegen Karre und Schwielen, »so dass man heute über ein paar Sachen mehr Bescheid wusste als vorher, aber im Grunde war es nur ein Kulissenwechsel«. Ganz gleich, ob man Salbenblatt heißt oder Pitschmann. Für beide steht der Suizid am Ende ihrer Geschichten, zum Glück bleibt es für letzteren beim Versuch. Pitschmann stirbt 2002 in Suhl. Sein Roman erscheint 2015, nachdem im Brigitte-Reimann-Literaturhaus in Neubrandenburg das Manuskript entdeckt worden war. Pitschmann war mit Reimann verheiratet gewesen und hatte mit ihr zusammen von 1960 bis 1964 zum zweiten Mal in Hoyerswerda gelebt und gearbeitet.

Das schlichte Erzählungsbändchen ist nicht nur eine Fundgrube für Schwarze-Pumpe-Interessierte oder Pitschmann-Begeisterte, sondern auch für die Liebhaber von Short Storys. Seine Sujets sind ungewöhnlich - etwa die Geschichte des Karrenmannes, der sich in die »Gleichberechtigte« verliebt und sie sich in ihn. Aber beide müssen sich erst prügeln, ehe sie das begreifen und akzeptieren können. Oder die Geschichte des trauernden Arbeiters, der sich nach dem Tod des Kumpels außerstande sieht, mit zur Beisetzung zu gehen, »wo’s aus der Grube zieht und wo solche Reden gehalten werden«, stattdessen aber seine persönliche Abschiedsansprache an den Schrank des Toten richtet. Die Sprache ist ungestelzt, entspringt gründlicher Beobachtung und mutigen Neukombinationen. Ihre emotionale Wirkung auf den Leser verfehlt sie auch in den einfachsten Sätzen nicht, etwa wenn der Trauernde den Schrank des Toten anschreit: »Komm endlich raus da aus dem Scheißsarg«.

Fast ebenso spannend wie die Erzählungen ist der ausführliche Anhang, in dem eine Rede Pitschmanns aus den 1990er Jahren in Schwarze Pumpe von seiner Verwurzlung mit diesem Teil seines Lebens zeugt und in dem sehr ausführlich der Kampf des Autors mit Zeitungsredaktionen, Lektoren und Kollegen um seine Veröffentlichungen und die Anerkennung als Schreiber geschildert wird.

Siegfried Pitschmann: Erzählungen aus Schwarze Pumpe. Hg. v. Kristina Stella. AISTHESIS Verlag. 183 S., zahlr. Fotos, br., 9,95 €.

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