Häuserkampf für Tarifbindung - das Bohren dicker Bretter

Zwar stehen nach der jüngsten Metall- und Elektrotarifrunde viele Beschäftigte unter tariflichem Schutz, aber es bleibt viel zu tun

  • Hans-Gerd Öfinger
  • Lesedauer: 3 Min.
Kein Tarifvertrag bedeutet in der Regel mehr arbeiten für weniger Geld. Die IG Metall will das ändern, die Tarifbindung stärken und Tarifflucht verhindern.

Seit Jahren wachsen bei Unternehmen Begehrlichkeiten, sich vom Flächentarifvertrag zu verabschieden. Der Anteil der Betriebe und Beschäftigten ohne Tarif ist besonders im Osten dramatisch hoch. Branchenverbände bieten den Firmen längst eine »OT-Mitgliedschaft« mit Service ohne Bindung an den Tarifvertrag an. Für die Gewerkschaften ist all dies Bedrohung, Herausforderung und Handlungsimpuls zugleich. So hatte sich die IG Metall vorgenommen, in der Tarifbewegung 2016 Warnstreiks zu nutzen, um in »tariflosen Zonen« die Tarifbindung auszuweiten.

»Das ist gelungen«, heißt es auf der Website der Gewerkschaft. In mehr als 200 Betrieben bundesweit hätten Aktionen zur Tarifbindung stattgefunden. In gut 100 Betrieben werde über »tarifvertragliche Lösungen« verhandelt, in 40 Firmen sei es gelungen, die Tarifbindung für 10 000 Beschäftigte herzustellen. Grüne und gelbe Punkte auf einer Landkarte zeigen, wo bereits ein Ergebnis erzielt wurde und wo verhandelt wird - von Aachen bis Bautzen, von Lörrach bis Rostock.

Doch die bisherigen Fortschritte sind erst ein Tropfen auf den heißen Stein. Im 26. Jahr der deutschen Einheit klaffen die Verhältnisse in Ost und West noch weit auseinander. In der Metall- und Elektroindustrie, dem Kernbereich der IG Metall, arbeiten bundesweit knapp 53 Prozent nach Flächentarif. Wie enorm die Abweichungen sind, zeigt sich im IGM-Bezirk Mitte, der sich über vier Bundesländer erstreckt. So liegt der Wert nach Gewerkschaftsangaben im Saarland bei 77 Prozent, in Rheinland-Pfalz bei 55, in Hessen bei 62 und in Thüringen bei 21 Prozent. Arbeit ohne Tarif bedeutet längere Wochenarbeitszeit und Lohnopfer in zweistelliger Höhe. Die Einkommen liegen deutlich unter dem Tarifniveau, in Thüringen gar um 31 Prozent.

Tarifverträge regeln Mindeststandards, sagen Tarifprofis. Was es bedeutet, davon abgehängt zu sein, erzählt uns ein älterer Thüringer Industriearbeiter, der anonym bleiben möchte. »Ich habe 1998 letztmalig einen Tariflohn bezogen«, sagt er. Als Facharbeiter mit DDR-Biografie hatte er Glück, war stets im Beruf tätig und nie länger arbeitslos. Derzeit arbeitet er bei einem namhaften Konzern mit Standorten in Ost und West. Facharbeiter wie er beziehen im Schnitt unter zwölf Euro pro Stunde, also gut 4,50 Euro brutto unter Tarif. Hochgerechnet auf ein Jahr ergibt dies eine Einbuße von rund 9000 Euro. Wer über zehn Jahre unter solchen Bedingungen arbeitet, »verschenkt« einen sechsstelligen Betrag. Dies schmälert Lebensstandard und Rentenerwartung und wurmt mächtig. Dass in einem Schwesterbetrieb im Südwesten selbst Leiharbeiter vom ersten Tag an mehr verdienen als hochqualifizierte Stammbeschäftigte im Osten, schürt Frust. »Wenn mir ein Kollege sagt, dass er ab dem 20. eines Monats nicht weiß, wie er seine Kinder ernähren kann, dann wird klar: Da muss was passieren«, so seine Überzeugung.

Viele ältere Arbeiter sind froh, dass sie in ihrer Heimatregion überhaupt eine Stelle haben. Sie zählen die Jahre bis zur Verrentung. Gleichzeitig beobachten Gewerkschafter, dass im Osten eine jüngere Generation ohne »Wendeerfahrung« sich nicht länger mit zweitklassigen Zuständen abfinden will. Dies könnte ein »Ende der Bescheidenheit« nähren und die Kampfkraft stärken. Die IG Metall steckt viele Ressourcen in das Engagement für Lohnangleichung und Tarifbindung speziell im Osten. Die Arbeit ist langwierig, erfordert Geduld und gleicht dem Bohren dicker Bretter. Einen Durchbruch hat es jüngst in mehreren Zuliefererbetrieben der Autobranche in Thüringen gegeben.

Auch im Westen wehren sich Metallarbeiter weiter gegen Tarifflucht. Am Montag zogen Arbeiter des weltweit führenden Reißverschlussherstellers YKK im hessischen Weimar-Wenkbach vors Tor und blockierten eine Bundesstraße. Der japanische Konzern gilt als hochprofitabel und war Ende 2015 aus dem Flächentarif ausgestiegen. Die Belegschaft ist inzwischen zu über 70 Prozent in der IG Metall. Ein Ende der seit Monaten laufenden Proteste ist nicht in Sicht. Hiroyasu Ishizaki, YKK-Deutschland-Geschäftsführer, träume davon, »die Löhne auf ägyptisches Niveau abzusenken, dann ist sein Bonus für nächstes Jahr noch höher«, so IG-Metall-Sekretär Ferdinand Hareter. »Wer wie YKK die Menschenwürde mit Füßen tritt, verdient nur eine Antwort: Kampf.«

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