Mehr Angriffe auf Ausländer nach Brexit-Votum
In Großbritannien häufen sich seit dem Referendum Angriffe auf Migranten / Hasskriminalität im Vergleich zum Vormonat um 57 Prozent gestiegen
Es ist nicht einmal 8 Uhr morgens, als Juan Jasso mehrere Jugendliche an einer Straßenbahn-Haltestelle in Manchester auffordert, nicht zu fluchen. Es seien Kinder anwesend. Dann steigt Jasso in die Bahn. Was folgt, ist purer Rassismus: Die Jugendlichen fordern ihn auf, »nach Hause nach Afrika« zu gehen und die Straßenbahn zu verlassen.
Jemand filmt den Vorfall mit seinem Handy. Die Mehrheit der Passagiere tut kaum etwas. Erst als einer der Jugendlichen eine Mutter mit ihrem Baby mit Bier überschüttet, beim Versuch Basso zu treffen, schreiten die anderen Fahrgäste ein. Die Jugendlichen verlassen die Bahn, eine Frau ruft ihnen hinterher, sie seien »eine Schande für England«.
Jasso lebt seit 18 Jahren in Großbritannien, er kommt nicht aus Afrika, sondern aus den USA, hat dort sieben Jahre lang als Soldat gedient. Angst habe er vor den Jugendlichen nicht gehabt, sagt er später dem Fernsehsender Channel 4, aber dass Ausbrüche und Angriffe wie diese durch die Diskussion um den Brexit befeuert wurden, das Gefühl habe er schon.
Seit das Abstimmungsergebnis am Freitag bekannt wurde, häufen sich in sozialen Netzwerken Beschwerden von Kontinentaleuropäern, von Menschen mit dunkler Hautfarbe und Muslimen über rassistische Angriffe und Äußerungen in ihrem Alltag. Zwischen dem Tag des Referendums und dem Sonntag danach sei die Zahl der angezeigten Fälle von Hasskriminalität im Vergleich zum Vormonat um 57 Prozent gestiegen, teilte das nationale Bündnis der Polizeichefs mit.
Beim Londoner Radiosender LBC ruft unter Tränen eine ältere Dame an, die angibt, mehr als 40 Jahre in Großbritannien zu leben. Nun sei sie von ihren Nachbarn aufgefordert worden, das Land zu verlassen, weil sie Deutsche sei. Auch sei ihre Haustür mit Hundekot beschmiert worden. Ob die Aussage und die Identität der Frau der Wahrheit entsprechen, versucht nun die Polizei in Chester zu klären, wohin sich der Anruf zurückverfolgen ließ. Auch die deutsche Botschaft ist eingeschaltet.
Aus dem ganzen Land melden sich europäische Einwanderer sowie muslimische und dunkelhäutige Menschen, die auf der Straße beschimpft werden. Eine BBC-Journalistin wird beim Überqueren der Straße aus einem Auto heraus rassistisch beleidigt. Im nordenglischen York wird eine schwedische Mutter aufgefordert »nach Hause zu gehen«. Übereinstimmend berichten Opfer, man habe ihnen gesagt: »Wir haben Euch rausgewählt! Geht nach Hause.«
Die Facebook-Gruppe »Worrying signs« dokumentiert rassistische Vorfälle nach der Brexit-Abstimmung. Dort berichtet ein Vater, in der Schultoilette seiner Tochter habe jemand an die Wand den Namen eines rumänischen Mädchens geschrieben, gefolgt von »Geh› nach Hause«. Die Entscheidung Großbritanniens, seine EU-Mitgliedschaft zu beenden, hat Ausländerfeindlichkeit offenbar neuen Auftrieb gegeben.
Die Übergriffe beschäftigten nun auch das britische Parlament. Man wolle mit aller Härte gegen Rassismus und Übergriffe gegen EU-Ausländer und Menschen anderer Herkunft und Religion vorgehen, hieß es einhellig bei der Parlamentsdebatte. Die Polizei wurde aufgefordert, konsequent gegen rassistische Übergriffe vorzugehen.
Der gerade frisch gewählte Bürgermeister Londons, Sadiq Khan, hatte noch am Freitag betont, EU-Bürger seien weiterhin in London willkommen. Gegen Hasskriminalität werde man mit aller Härte des Gesetzes vorgehen. Khan bemerkte früh, was sich da im Land zusammenbrauen könnte. In London wurde das polnische Kulturzentrum mit der Aufforderung »Geht nach Hause« beschmiert. Polen stellen mit rund 800.000 Menschen die größte Gruppe der EU-Einwanderer in Großbritannien.
Während des Brexit-Wahlkampfes war das Thema Einwanderung dominierend. Brexit-Befürworter versprachen verbesserte Grenzkontrollen, wenn das Königreich endlich raus aus der EU ist. Der Chef der Anti-Europa-Partei UKIP, Nigel Farage, ließ sich vor einer Plakatleinwand fotografieren, auf der Hunderte Flüchtlinge zu sehen waren und versprach, man werde die Grenzen künftig besser kontrollieren.
Die Labour-Abgeordnete Harriet Harman sagte, die Brexit-Kampagne habe ein Klima geschaffen, in dem einige Menschen glauben, dass Rassismus und Fremdenfeindlichkeit wieder akzeptiert würden.
Die Polizei in Manchester hat inzwischen die Jugendlichen festgenommen, die den Amerikaner Juan Jasso in der Straßenbahn belästigt haben. Sie sind 20, 18 und 16 Jahre alt. Ihnen wird die Störung der öffentlichen Ordnung zur Last gelegt. Das kann in Großbritannien mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden. epd
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