Theater in der Rigaer Straße
Bewohner und Unterstützer von teilgeräumten Hausprojekt simulieren Gerichtsverhandlung
Ein Richter, ein Investor mit Anzug, Strohhut und Zigarre, ein Anwalt mit Pferdeschwanz. Bewohner und Unterstützer des Hausprojektes in der Rigaer Straße 94 in Friedrichshain hatten für Dienstagsvormittag auf den sogenannten Dorfplatz eingeladen, der Kreuzung zwischen Rigaer und Liebigstraße. Sie führten ein Theaterstück auf, in dem sie die Gerichtsverhandlung spielen, die sie selbst per Eilantrag beantragt hatten. Die Performance war notwendig geworden, weil das Landgericht Berlin den Prozesstermin kurzfristig am Montag abgesagt hatte, bei dem es um eine einstweilige Verfügung gegen die Räumung des Erdgeschosses des Wohnprojekts gehen sollte.
Im Schauspiel erklärt der Richter Polizeieinsatz und Räumung zwar für illegal, hält das Urteil aber für hinfällig, da das Haus mittlerweile saniert sei, und längst neue Mieter eingezogen seien. »Scheißegal – illegal«, ruft einer aus dem Publikum.
In der Nacht zum Dienstag sind insgesamt sechs Fahrzeuge in Lichtenberg und Friedrichshain durch Brandstiftung von unbekannten Tätern beschädigt worden. Dabei handelte es sich um Kleinwagen. Bei den Brandstiftungen wurde niemand verletzt. In beiden Fällen wird ein politisches Motiv in Zusammenhang mit einem Polizeieinsatz am 22. Juni in der Rigaer Straße vermutet. Deshalb ermittelt eine Sonderkommission der Polizei.
Unbekannte haben zudem die Fassade einer Bank in Spandau bemalt. Außerdem beschädigten sie in der Nacht zum Dienstag drei Scheiben der Eingangstüren in der Moritzstraße, wie die Polizei mitteilte. Weil die Unbekannten in roter Farbe »Herz-R94« auf die Fassade sprühten, wird ebenfalls ein Zusammenhang zur Rigaer Straße 94 geprüft. dpa/nd
Vom Dorfplatz sind es nur wenige Meter bis zur Hausnummer 94. Anders als noch vor wenigen Tagen öffnen Polizisten das Absperrgitter freiwillig und ohne den Ausweis der Passanten sehen zu wollen. »Seit dem Nazi-Leak sind die Kontrollen wesentlich lascher geworden«, sagt Philipp Neumann, der im Hausprojekt wohnt. Manchmal müsse er seinen Ausweis dreimal vorzeigen, nur um vom Bäcker an der Ecke in sein 40 Meter entferntes Zuhause zu gelangen, erzählt er. Auf einem Neonazi-Portal waren vergangene Woche Adressen von vermeintlichen Be- und Anwohnern der Rigaer Straße aufgetaucht.
Die Rigaer Straße 94 hatten Linke wie viele andere Häuser vor allem in Friedrichshain 1990 besetzt. 1992 erhielten die Bewohner Mietverträge für den Wohnbereich, den sie auch heute noch als Haus-WG nutzen: Die Türen sind nicht verschlossen, Bäder und Küchen gibt es nicht auf jedem Stockwerk und werden gemeinschaftlich von allen genutzt. Deshalb stört es umso mehr, dass Polizisten und Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma seit zwei Wochen im Treppenhaus herumstehen, und die Bewohner bei jedem Toilettengang an ihnen vorbei gehen müssen.
Zum Hausprojekt gehörte bis zur Räumung lange Jahre die linke Szenekneipe »Kadterschmiede«. Neben Partys und Konzerten gab es hier politische Diskussionsveranstaltungen zu Gentrifizierung und Naziaufmärschen. Abends luden die »Freunde der Kadterschmiede« zur Küche für alle (Küfa) ein, wo es günstiges Essen gab. Einmal pro Woche kochten hier Flüchtlinge. Montags wollten nun auch Nachbarn kochen, aber die Räumung kam dazwischen.
Geflüchtete fanden nach der Räumung der Kreuzberger Gerhart-Hauptmann-Schule in der »Kadterschmiede« eine vorübergehende Bleibe. Geprellte Arbeiter der »Mall of Berlin« lebten zeitweise im Soli-Zimmer. »Die Hausprojekte haben den Kiez politisch und widerständig gehalten«, sagt Philipp Neumann. Durch Infostände, Demos, Kiezspaziergänge, aber auch Farbbeutel gegen Neubauprojekte. In der Liebigstraße 34 betreibt ein Kollektiv den Infoladen »Daneben«. Flyer und Zeitschriften gibt es hier und Computerarbeitsplätze. Auch eine Rechtsberatung wird angeboten. Die »Rigaer 94« ist Teil des Kollektivs.
Für Neumann ist es aber auch wichtig, aus der »linken Sszene-Blase« herauszukommen. »Wenn man die Gesellschaft verändern will, muss man sich gegenüber Leuten öffnen, die viele unserer Ansichten teilen.« Deshalb rief sein Hausprojekt nach einer Polizeirazzia im Januar eine Kiezversammlung ein. 250 Menschen kamen, viele zeigten sich selbst angenervt von den vielen Kontrollen, seit der Nordkiez als »kriminalitätsbelasteter Ort« gilt. Selbst die Geburtstagsgäste einer 14-Jährigen seien eingekesselt worden. Seitdem sei die Nachbarschaft näher zusammengerückt. Nachdem die Bauarbeiter auch die Waschmaschinen der »Rigaer 94« entsorgt hatten, spendete ein Nachbar eine neue. »Wir erleben viel Solidarität«, sagt Neumann. Aber auch Gemeinsamkeit. »Wir sind zu einem kleinen Dorf geworden.«
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