Urvertrauen und unbändiger Wille
Im Roten Wedding geboren: Der unaufhaltsame Aufstieg des Jalid Sehouli, dessen Eltern aus Marokko immigrierten
Tanger, die Stadt im äußersten Norden des afrikanischen Kontinentes, zwölf Kilometer vom europäischen Festland entfernt, Tanger, die unglaubliche Stadt, von der der US-amerikanische Schriftsteller Truman Capote schwärmte und vor der er Besucher warnte. Jeder, der nach Tanger zu fahren beabsichtige, solle zuvor drei Dinge tun: »sich gegen Typhus impfen lassen, seine Ersparnisse von der Bank abheben und sich von seinen Freunden verabschieden«. Schließlich wisse man nie, ob man auf ewig festgehalten werde in dieser Stadt, die schon viele in ihren Bann zog und nicht mehr losließ - die Stadt der gewieften Schmuggler, Exzentriker, Schriftsteller und der vielen glücklosen Glücksritter.
Abdullah Sehouli, weder geimpft noch exzentrisch, kämpfte um die nackte Existenz und brauchte auch keine Ersparnisse von der Bank zu holen - er hatte keine! Abdullah Sehouli war politisch Verfolgter, wie so viele in den 1960er Jahren, die für Gerechtigkeit kämpften und Sozialisten wurden.
Abdullah Sehouli, mit 17 Jahren und Sondergenehmigung verheiratet, war bereits zweifacher Vater, als er beschloss, auszuwandern. Auf einem Zirkuswagen floh er durch den europäischen Süden und landete irgendwann, nach sieben Jahren, in Berlin, korrekter: im westlichen Stadtteil Wedding. Da war er nun, mittellos, ohne eine Silbe Deutsch zu sprechen, aber voller Optimismus und Tatkraft, wie sie häufig bei politisch Verfolgten zu finden ist. Dem Tod entgangen zu sein, setzte bei ihm unglaubliche Kräfte frei. Sehouli lernte schnell, fand Arbeit als Boxer und holte in Windeseile seine Frau Zohra, eine willensstarke und vielseitig begabte Frau, mit den Kindern Mohamed und Lafita nach.
Wedding 1968. Mitten im revolutionären, von Studenten bewegten Berlin wurde Sohn Jalid geboren - ein von Anfang an sehr lebendiger Junge, der die Familie fast täglich mit Schocknachrichten in Sorge hielt. Sehr früh widmete er sich mit ganzem Ehrgeiz dem Fußball, genauer gesagt dem Verein Meteor 06. Jalid durchritt alle Ligen und hatte fortan nur ein Ziel: Nationalspieler werden! Das Talent wurde ihm allseits bestätigt, er hatte allergrößte Chancen, war sozusagen ein hoffnungsvoller Kader. Ein fürchterlicher Unfall durchkreuzte die Fußballkarriere und verbannte Jalid für Monate in eine Klinik im Wedding. Er klagte nicht und haderte nicht. Gleichwohl war er oft traurig und entwickelte eine ganz und gar ungewöhnliche Bewunderung für die ihn behandelnden Ärzte. Sie wurden seine Helden! So wollte er werden: Menschen helfen und Kranke heilen. Das war nun sein Traum, an dessen Realisierung er fortan arbeitete. Auf dem kleinen Balkon in der Weddinger Exerzierstraße etablierte sich bald ein halber Zoo mit kleinen Tieren - Jalid kümmerte sich um alle. Als sich ein Kaninchen das Bein brach, schiente er es - mit Erfolg!
Leider verzeichnete er derartige Erfolge nicht in der formalen Bildung. Jalid, unüberhörbar ein Urberliner, war ein ganz und gar mäßiger Schüler, der das Gymnasium verlassen musste und auf die Realschule verwiesen wurde. Eine Degradierung, die er als Erniedrigung empfand, die ihn aber nicht entmutigte. Im Gegenteil! Alle seelischen Verwundungen trug er mit Haltung und der sicheren Gewissheit, es irgendwie zu schaffen.
Es ist diese schmerzverdrängende Haltung, die Jalid alle Hürden, Verletzungen und Erniedrigungen ignorieren ließ. Er entwickelte das Gefühl des »Darüberstehens«, eine Haltung, die ihm später als Wissenschaftler das gab, was Psychologen Äquidistanz nennen - den nötigen Abstand und die auf Fakten aufbauende Sachlichkeit. Diese Haltung verdankt er zu großen Teilen seinen Eltern, aber auch sich selbst. Jalid, der Junge aus einfachen Verhältnissen, war sich der Liebe und Sorge seiner Eltern immer sicher. Das war ein Reichtum, den Soziologen oft übersehen, wenn sie von prekären Verhältnissen reden und schreiben. Menschen werden kategorisiert ohne Empathie und mit Klassen- und Schichtenmodellen des frühen vergangenen Jahrhunderts. Die sich aus derartigen Rastern ergebenden Urteile sind einer kritischen Analyse zu unterziehen und durch Berichte, wie jenen von Jalid Sehouli, zu ergänzen.
Urvertrauen und seelische Stabilität wurden der Kompass für Jalid. Seine aus Marokko stammenden Eltern, denen Bildung verweigert wurde, erwarteten Ergebnisse und Abschlüsse. Es gab keinen anderen Weg, als die gesteckten Ziele, die er internalisierte, zu erfüllen. Und er wollte es zunehmend aus eigenem Antrieb! Jalid schaffte den Wiedereinstieg in die Höhen der Gymnasialbildung und verlor auch den Mut nicht, als die Abiturnote weit entfernt vom numerus clausus für das Medizinstudium ausfiel. Er wurde Krankenpfleger und schlich sich in seiner Freizeit in die Hörsäle der Medizin, entwickelte unbändigen Ehrgeiz und System und konnte eines Tages das ersehnte Medizinstudium aufnehmen. Mit überbordender Freude widmete er sich seiner Berufung und wurde Bester.
Heute gehört Jalid Sehouli als Leitender Direktor der Frauenkliniken in der Charité zu den international führenden Krebsexperten. Sein unaufhaltsamer Aufstieg war nicht vorherbestimmt, sein Weg nicht mit Rosen bestreut. Im Gegenteil! Dieser Aufstieg forderte Disziplin und Haltung, einen unbändigen Willen und die Ausdauer, Hindernisse aus dem Weg zu räumen und immer wieder an sich zu glauben, nicht zu verzweifeln.
Nun startet dieser schier unglaubliche Mann eine zweite Karriere. Nach dem Erfolg seines ersten Buches »Marrakesch« erreichte er nun mit seinem zweiten Buch »... und von TANGER fahren die Boote nach irgendwo« den großen Durchbruch. Wolfgang Kohlhaase, der bedeutende ostdeutsche Drehbuchautor mit ungezählten internationalen Preisen, stellte Sehoulis Buch während der diesjährigen Leipziger Buchmesse dem Lesepublikum in einer alternativen Kaffeerösterei vor. Das Kaffeehaus war überfüllt, alle Treppen besetzt und jeder Zentimeter Fußboden sowieso. Viele Zuhörer warteten auf der Straße auf eventuell noch freiwerdende Plätze. Bis spät in die Nacht diskutierten die Besucher mit dem Autor und tauschten sich untereinander aus. Jalid Sehoulis Geschichten über Flucht, Schmerz, Sehnsucht sind ehrlich und ergreifend. Der Leser schlendert durch Tanger, die faszinierende marokkanische Stadt, geheimnisvolle weiße Perle Afrikas, Stadt der verwöhnten Exzentriker und glücklosen Glücksritter. Dieses Buch ist eine der besten Selbstfindungsgeschichten der Gegenwart.
Jalid Sehouli: Und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo. Be.bra Verlag, Berlin 2016. 272 S., br., 22 €. Unsere Autorin war langjährige SPD-Bundestagsabgeordnete und ist Ehrenpräsidentin der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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