Die Ukraine verliert ihre Illusionen

Trotz eines Freihandelsabkommens mit der EU liegt die Wirtschaft des Bürgerkriegslandes am Boden

  • Denis Trubetskoy
  • Lesedauer: 3 Min.
Der Freihandel mit der Europäischen Union funktioniert bisher nicht wie von der Ukraine gewünscht. Die Ausfuhr sinkt - und es droht eine Rekordarbeitslosigkeit.

Seit einem halben Jahr führt die ukrainische Wirtschaft ein neues Leben. Am 1. Januar trat das Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union in Kraft, während ein ähnliches Abkommen mit Russland ausgesetzt wurde. Dies bezeichnete der damalige Ministerpräsident Arseni Jazenjuk als »Beginn einer neuen Ära«, den die Regierung in Kiew groß feierte. Denn die Erwartungen an das Abkommen waren groß: Trotz der negativen Prognosen sprachen die Verantwortlichen von einer »historischen Chance auf Modernisierung«. Ein halbes Jahr später ist von der versprochenen Modernisierung nur wenig zu spüren.

Auf dem Papier hat die Europäische Union nun Russland als wichtigsten Handelspartner der Ukraine ersetzt. Doch in Wirklichkeit kann nur die EU daraus Vorteile ziehen. Während die Ukraine viel stärker als zuvor auf europäische Waren angewiesen ist, sinkt der eigene Export in die EU dramatisch. Um ein Viertel ist er seit der Unterzeichnung des Freihandelsabkommens geschrumpft - und wegen der starken Wirtschaftskrise gibt es im Moment keine Anzeichen, dass die Entwicklung sich bald umkehren könnte. So war der Rückgang zwar im ersten Quartal dieses Jahres kleiner als im vorherigen Jahr, ein Durchbruch ist allerdings nicht abzusehen.

»Die naiven Vorstellungen über die wirtschaftliche Kooperation mit der EU sind Geschichte. Endlich ist allen klar, dass ein schnelles und positives Ergebnis quasi unmöglich ist«, schreibt der ukrainische Wirtschaftsjournalist Mychajlo Drapak, der jedoch dazu aufruft, nicht alles negativ zu sehen. Denn: Die massiv veraltete ukrainische Schwerindustrie, die sich an Russland orientierte, hätte sowieso keine Zukunft mehr gehabt. Außerdem habe der aktuelle Misserfolg des Freihandelsabkommens nicht nur mit dem Abkommen an sich zu tun.

»Natürlich ist die Konkurrenz in der EU enorm groß - und die Unternehmer aus der Ukraine haben Angst vor dieser Konkurrenz«, sagt Wirtschaftsexpertin Inna Sosnowska. »Aber auch die innere Gesetzeslage ist nicht besonders exportfreundlich. Es gibt zu viele Steuern und zu wenig Hilfe seitens des Staates«, fügt sie hinzu. Außerdem ist es gerade für die ukrainische Leichtindustrie, die nun eindeutig die erste Geige spielt, sehr schwer, auf dem Riesenmarkt der EU konkurrenzfähig zu bleiben. »Der Markt der EU ist voll. Das betrifft sowohl Kleidung als auch Lebensmittel - also das, was die Ukraine gut kann. Die Qualität der ukrainischen Waren wird aber dadurch im Endeffekt definitiv besser«, glaubt Sosnowska.

Sogar optimistischen Einschätzungen zufolge kann es noch Jahrzehnte dauern, bis die Ukraine das neue Wirtschaftsmodell wirklich umgesetzt hat. Bis dahin müssen vor allem die Menschen aus den auf die Schwerindustrie orientierten Provinzen extreme Einbußen hinnehmen. Denn durch das Aussetzen des Freihandelsabkommens mit Russland läuft die ohnehin stattfindende Deindustrialisierung des Landes schneller ab als erwartet. Darunter leiden in erster Linie die Beschäftigten der vielen Großbetriebe in der Zentralukraine: Diversen Schätzungen zufolge hat zumindest ein Drittel der Abgestellten seit dem Beginn des vergangenen Jahres seinen Arbeitsplatz verloren.

»Diese Entwicklung ist unvermeidbar«, betont der ukrainische Wirtschaftsminister Stepan Kubiw. Sie ist für die soziale Stabilität der Ukraine aber auch extrem gefährlich. Ende des vergangenen Jahres hatte die Ukraine so viele Arbeitslose wie seit ihrer Unabhängigkeit nicht: Mehr als 490 000 Ukrainer waren ohne Job. Nun deuten alle Anzeichen darauf hin, dass diese Zahl bis Ende 2016 noch bedeutend steigern wird. Für viele Experten bedeutet dies, dass es ebenfalls immer wahrscheinlicher wird, dass soziale Proteste im Winter ausbrechen. Denn auch die Lebenshaltungskosten sollen ab September wieder signifikant steigen.

Dennoch ist es der Ukraine zumindest gelungen, ihre Wirtschaft bis in den Sommer hinein einigermaßen zu stabilisieren. Auch wenn viele Menschen nach einem halben Jahr nicht verstehen, wie das Freihandelsabkommen eigentlich funktionieren soll, glaubt Marjana Luzischin, Leiterin der westukrainischen Abteilung des Europäischen Wirtschaftsbundes, an den langfristigen Erfolg des Freihandels. »Am Ende ist dieses Abkommen einfach ein Instrument. Und die ukrainische Wirtschaft wird in der Lage sein, es entsprechend zu nutzen«, sagt sie.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.