Karneval der Unpolitischen
Warum der Christopher Street Day das Prinzip der Gleichheit verrät
Wenn am 23. Juli Schwule, Lesben, Bi- und Transsexuelle den Christopher Street Day (CSD) zelebrieren, dann dröhnt gewiss auch wieder das alljährliche »’Cause we are living in a material world« aus den Boxen. Madonna erklärt in ihrem berühmten Song, warum nur reiche Männer für sie in Frage kommen. Ein Lied, das perfekt zum gegenwärtigen CSD passt: Ist er doch nurmehr eine Veranstaltung für materialistische Girls und Boys. Besonders die den CSD dominierende Schwulenbewegung könnte mit dem Werbeslogan »Kauf dich frei und glücklich!« nicht besser beschrieben werden.
Mag es in den diesjährigen Berliner CSD-Slogans bisweilen um den Schutz von homosexuellen Flüchtlingen, um Jugendarbeitslosigkeit und Altersarmut gehen, regiert dort generell - wie auch auf dem CSD in Köln - der Geist des Kapitalismus. Schließlich ist selbst in den Forderungen - »Vielfalt ist Reichtum« lautet eine - keine Kritik am System zu erkennen. Man möchte eben bloß denselben Reichtum genießen dürfen wie die Heteros. Das ist ein legitimes, aber recht dürftiges Ziel für eine emanzipatorische Bewegung.
Folgerichtig erklärte der Meinungsjournalist Henryk M. Broder 2011 in der »Welt« den Kampf für Schwulenrechte im liberalen Westen für erfolgreich beendet: »Mission accomplished! Gay-Games? Gay-Hotels? Gay-Kreuzfahrten? Gay-Banking? Gay-Kreditkarten? Gay-Parenting? Gibt es alles schon.« In gewisser Weise hat Broder Recht. Doch auffällig an den aufgelisteten Errungenschaften ist, dass sie alle käuflich sind. Ungern wird die wirtschaftliche Seite der Regenbogenfamilie, speziell die der ausbeuterischen Leihmutterschaft, thematisiert. Als die schwulen Modemacher Domenico Dolce und Stefano Gabbana konsumkritisch bezüglich künstlicher Reproduktion und Leihmutterschaft anmerkten, dass Schwule - anders als etwa Elton John und dessen Partner - akzeptieren sollten, dass man »nicht alles haben kann«, brach ein Shitstorm los.
Sie hatten offenbar einen ideologischen Kern getroffen. In den aktuellen Forderungen des Berliner CSD will man davon nichts wissen. Lieber versucht man, das bürgerliche Familienmodell nachzubauen. Viele karriereorientierte schwule Paare um die 40 komplettieren ihr Glück nicht mehr wie in den 90ern mit einem Golden Retriever, sondern neuerdings mit einem Kind - ausgetragen von einer indischen Leihmutter.
Was aber sollen all jene tun, die sich die schwulen Hotels und Kreuzfahrten nicht leisten können? Solange die gesellschaftliche Akzeptanz zuvorderst eine Frage des Konsums ist, kann die »Mission« noch nicht beendet sein. Unfreiwillig macht Broder damit auf ein generelles Problem der Bewegung aufmerksam: Sie adressiert in erster Linie konsumfreudige, hedonistische Homo-, Bi- und Transsexuelle. Sie paktiert nicht nur mit dem Kapitalismus, sie erhofft sich von ihm die Befreiung. In diese Falle tappten kürzlich auch etliche Aktivisten und Journalisten in ihren Reaktionen auf das furchtbare Massaker in dem Schwulenclub »Pulse« in Orlando. Zu lesen war, dass solche Clubs grundsätzlich offene, inkludierende und diverse Orte seien, in denen jeder Besucher geschützt vor Homophobie er selbst sein dürfe. In Wahrheit regieren dort radikal die Gesetze des Neoliberalismus. Es sind exklusive Orte, die jene Menschen ausschließen, die nicht über den entsprechenden Szene-Habitus verfügen oder sich den Eintritt und die immens teuren Cocktails nicht leisten können. Und wer nicht über das ästhetische Kapital (Markenkleidung, Sixpack etc.) verfügt, muss ebenso draußen bleiben. Arbeiter kommen in dieser Welt selten vor, höchstens fetischisiert als Prolls. Gerade in diesen Clubs kann man zu dem Schluss kommen: Homosexualität ist eine schöne Sache, kostet aber viel Geld.
Wer die Imperative »Genieße! Konsumiere!« kritisch hinterfragt, wird verstoßen. Nun ist das Attentat von Orlando kein rechter Anlass für eine Selbstkritik der Szene. Doch ein Christopher Street Day bietet dafür das ideale Forum. Leider aber besteht daran kein Interesse, da diese Veranstaltungen in der westlichen Welt als Tourismusmagnete für kaufkräftige Besucher fungieren, die unter dem Latexmantel der politischen Demonstration eine riesige Party feiern wollen. Als die Gender-Theoretikerin Judith Butler 2010 auf dem Berliner CSD den Couragepreis auf offener Bühne ablehnte und die islamfeindlichen Tendenzen sowie die Kommerzialisierung der Veranstaltung beklagte, zeigte sich das feierlustige Publikum bis auf wenige Ausnahmen irritiert.
Natürlich darf Aktivismus auch Freude bereiten, doch früher stand das Politische im Vordergrund. Zwei Spielfilme, die sich in den vergangenen Jahren retrospektiv mit der Gay-Rights-Bewegung auseinandersetzten, sind dahingehend aufschlussreich. Das Biopic »Milk« (2008) von Gus Van Sant über den Schwulenrechtler und Politiker Harvey Milk erhielt viel Beachtung. Harvey Milk verstand es in San Francisco, Aktivismus und Politik erfolgreich zusammenzubringen, und zeigte sich auch mit anderen Unterdrückten solidarisch. Die Gewerkschaften waren auf seiner Seite. Van Sants Filmporträt hatte in der Schwulenszene dann auch wirklich etwas bewirkt: Plötzlich wollten viele so einen sexy Schnurrbart wie James Franco im Film tragen. Nur repolitisieren ließ die Szene sich nicht.
Der Film der Stunde aber könnte »Pride« (2014) sein, der auf wahren Begebenheiten aus den Jahren 1984 und 1985 beruht. Matthew Warchus erzählt darin, wie eine Gruppe von Schwulen und Lesben in Großbritannien erkennt, dass sie sich mit den streikenden Bergleuten solidarisieren müssen, da die neoliberale Regierung von Margaret Thatcher ihr gemeinsamer Feind ist. Thatcher bekämpfte erbittert Homosexuelle und Bergarbeiter. Letztere fremdeln im Film anfangs mit ihren neuen Unterstützern, auch sie denken noch homophob. Irgendwann aber erkennen sie ihre gemeinsamen Interessen und setzen sich vereint für ihre Rechte ein. Leider wurde »Pride« in der Community nur als Feel-Good-Movie rezipiert. In der Tat endet der Film mit einer großen bunten Gay-Pride-Parade, bei der wiederum die Bergleute mitmarschieren. Doch wird nicht verheimlicht, dass die Arbeiter ihren Streik verloren haben.
Wir erleben dieser Tage in ganz Europa einen Rechtsruck. Homophobe äußern sich nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand. Es ist gut, wenn die CSD-Besucher sich gegen diesen Rollback stellen, doch mit einem Aufruf zu mehr Toleranz und einem oberkörperfreien Tänzchen bewirkt man nichts. Vielmehr müsste die Szene erkennen, dass dieser Rechtsruck eine ökonomische Grundlage hat. Der Kapitalismus zeigt sich hier - jenseits der Gay-Hotels - von seiner finstersten Seite: Warum auch sollte er automatisch für sexuelle Gleichheit sorgen, wo er doch auf fundamentaler Ungleichheit beruht?
Solange der CSD die Kapitalismuskritik scheut wie AfD-Funktionäre die Gender-Theorie, bleibt er ein sommerlicher Karnevalsumzug, der die herrschende Ordnung stabilisiert. Solange man sich nicht mit anderen Unterdrückten - beispielsweise mit hetero- und homosexuellen Arbeitern und Hartz-IV-Empfängern - solidarisiert, kämpft man nur für persönliche Interessen, nicht aber für das Prinzip der Gleichheit.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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