Klang der Katastrophe

Vor gut fünf Jahren wurde die japanische Kleinstadt Onagawa vom Tsunami komplett zerstört. Heute lebt sie neu auf - dank Menschen wie dem Tokioter Yousuke Kajiya, der dort mittlerweile Gitarren produziert. Von Felix Lill

  • Felix Lill
  • Lesedauer: 9 Min.

Ganz Japan erinnert sich an diesen einen Tag. Jeder hat seine eigene Geschichte. Die von Yousuke Kajiya geht so: Er stand in seinem Geschäft im wuseligen Tokioter Viertel Ochanomizu, nicht weit vom Kaiserpalast. In der Nachbarschaft lauter gleichartiger Geschäfte. Kajiya tat an diesem Freitag, 11. März 2011, das, was er jeden Tag tat. Dasselbe, das auch die anderen Läden in seiner Straße jeden Tag taten: Gitarren verkaufen. Ein Kunde suchte nach einem besonderen Stück. Der Sammler fragte so genau nach Details wie Holz, Lackierung und Metall, dass selbst ein gut geschulter Verkäufer wie Yousuke Kajiya in Verlegenheit geriet. Dann bebte die Erde, wie es in Japan gelegentlich vorkommt. Der Kunde hielt sich am Tresen fest, hörte auf zu fragen. Zum Glück, dachte Yousuke Kajiya erst.

Aber das Beben hörte nicht auf, auch nach mehreren Minuten nicht. Die Gitarren an den Wänden schaukelten hin und her, der Boden war so wacklig, wie es Kajiya noch nie erlebt hatte. Kurz darauf erfuhren auch die Menschen in Tokio, was passiert war. Das Epizentrum des Bebens vor der Nordostküste Japans zeigte eine nie da gewesene Stärke von 9,0 auf der Erdbebenskala und setzte einen gewaltigen Tsunami in Gang. In den Nachrichten wurden die Folgen für die Region Tohoku gezeigt. Riesige Gebäude wurden zu Ruinen oder um Hunderte Meter verschoben, ganze Siedlungen wurden vom Meer verschluckt. An die 20 000 Menschen starben, 300 000 verloren ihr Zuhause. 250 Kilometer nördlich von Tokio havarierte das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi. »Wir dachten, die Welt geht zu Ende«, erinnert sich der 32-jährige Kajiya. Noch heute steht ihm der Schock ins Gesicht geschrieben, wenn er davon erzählt.

In Tokio ging das Leben schon bald wieder seinen gewohnten Gang. Nicht so für Yousuke Kajiya. Der Gitarrenhändler packte sein Auto voll mit Nahrungsmitteln und fuhr gen Norden, um zu helfen. Nach und nach baute er seine Existenz in der sicheren Hauptstadt ab, um im Norden eine neue aufzubauen. Mittlerweile ist Yosuke Kajiya in den zerstörten Gebieten von Tohoku das, was er vorher in Tokio war: ein angesagter Gitarrenverkäufer. Mit dem Unterschied, dass er heute nicht mehr amerikanische und britische Modelle verkauft, sondern die Saiteninstrumente selber produziert. Mehr noch: Seine Gitarren dürften weltweit die ersten sein, die aus Holz und Metall eines Katastrophengebiets gemacht sind.

In Onagawa, einer Kleinstadt mit einst 10 000 Einwohnern, ist die Zerstörung bis heute sichtbar. Der Ort liegt an einer Bucht, der Küstenstreifen war früher mit Wohnhäusern zugestellt. Noch immer liegt ein umgekipptes Gebäude auf dem Geröll. Früher war es, 100 Meter landeinwärts, die Bank der Stadt. Der Tsunami hat von der durch Fischerei geprägten Stadt nicht nur alle Boote und den kleinen Hafen eingefordert, sondern auch ein Zehntel seiner Bevölkerung. In den folgenden Monaten verließen weitere 2000 Menschen den Ort, weil sie alles verloren hatten. Keine Ortschaft wurde vom Tsunami stärker getroffen als Onagawa.

Ausgerechnet hier, in einer neu gebauten Fußgängerzone, hat Yousuke Kajiya sein Geschäft aufgebaut. Fünf Jahre lang hat er Schulden gemacht - in einer Gegend, die schon vor der Katastrophe nicht unbedingt für große Wachstumschancen bekannt war. Warum tut man sich das an? Aus Verantwortung, sagt der Jungunternehmer, der auch seine Frau mit nach Onagawa geholt hat. Kajiya trägt einen dunkelblauen Anzug, weil er seiner Wahlheimat Respekt zollen will. Er lächelt freundlich und verlegen, verbeugt sich gegenüber jedem Einheimischen, sagt oft danke. Dabei verhält es sich mittlerweile genau umgekehrt: Die Leute sind ihm dankbar. Denn mit seinem Geschäft leistet er maßgeblich Anteil am Wiederaufbau Onagawas.

Als Yousuke Kajiya die Region vor fünf Jahren das erste Mal besuchte, erschütterte ihn Onagawa von allen Siedlungen am meisten. Der Gitarrenfreak, der sein Leben lang Musik gemacht, jahrelang in einer Band gespielt und selber Lieder geschrieben hatte, war ein Leben ohne Rhythmus nicht gewohnt. »Als ich in Tokio arbeitete, spielte immer Musik, die Lautsprecher überboten sich gegenseitig mit Melodien und Bässen. Und dann sah ich das hier.« Mit den Händen in der Hosentasche steht Kajiya an der Küste und blickt auf die ehemalige Bank, die nun eine Ruine ist. »An den Tagen nach der Katastrophe wurde hier alles vernichtet, sogar die Akustik. Totenstille hatte sich über den Trümmern ausgebreitet.«

Heute ist Kajiya der Klangmeister der Stadt. »Ich dachte mir, es wäre doch ein tolles Zeichen des Wiederaufbaus, wenn aus der Totenstille von damals neue Melodien erklingen könnten.« Dass es Gitarren wären, lag bei Kajiyas Hintergrund nahe, ein anderes Instrument spielt er nicht. Und von den Marketingkursen an der Uni weiß er: »Fünf Prozent der Japaner spielen Gitarre. Und wir sind patriotische und solidarische Käufer.« Klangkörper aus dem Katastrophengebiet, das könnte funktionieren.

Von den Zweifeln seiner Arbeitskollegen in Tokio ließ er sich nicht aufhalten. Nach der x-ten Reise nach Onagawa kündigte er seinen Job und nahm einen Kredit auf: 50 Millionen Yen (rund 418 000 Euro). Kajiya kaufte zehn Maschinen und ließ das kleine Firmengebäude errichten. Seit 2015 produziert sein Betrieb Glide an die 300 Gitarren pro Jahr, bald will er auf jährlich 1800 Stück kommen. Verkauft wird über die eigene Website, bei einem Händler in der weiter nördlich gelegenen Millionenstadt Sendai, die zugleich ein Kerngebiet des japanischen Rocks ist, und natürlich in Onagawa selbst.

Kajiyas kleiner Laden sieht modern und edel aus, passend zur komplett neuen Fußgängerpassage, die die Stadt mit Zuschüssen aus Tokio gebaut hat. In dunklen Holzhäusern vertreiben zwei Cafés, ein Reisebüro, ein Fischhändler, ein kleiner Supermarkt und einige weitere Geschäfte ihre Waren. Der Hingucker aber ist Glide. Teenager bleiben vor dem Schaufenster stehen und drücken ihre Finger gegen das Glas, um den Bass- und E-Gitarren ein bisschen näherzukommen. »Ich spare gerade auf eine«, sagt ein Junge zu seinem Freund. »Kannst du dir eh nicht leisten«, sagt der andere. Leider könnte er Recht haben: Das Einkommensniveau hat sich in den meisten Gebieten Tohokus noch nicht erholt, auch nicht in Onagawa. Die Arbeitslosigkeit liegt höher als vor fünf Jahren, zahlreiche Betriebe sind verschwunden oder abgewandert. Wer soll hier bitteschön Gitarren kaufen?

Auf dem kurzen Fußweg von der Küste zu seinem Laden geht Yousuke Kajiya am Kulturzentrum der Stadt vorbei, auch das wurde neu gebaut. »Ich will nicht nur kulturelle Aufbauhilfe leisten, sondern auch wirtschaftliche. Beides ist wichtig für das Leben hier.« Die Wertschöpfungskette der Klangkörper ist fast ausschließlich regional. Das Holz aus Tohoku ist für Gitarren eigentlich untypisch weich. Als Metall verwendet Glide nicht Eisen, sondern Kobalt - die Gegend verfügt über reiche Kobaltvorräte. 90 Prozent der Materialien stammen aus der Region, alle Zulieferer sind Kleinbetriebe, die durch die Katastrophe ihre früheren Kunden verloren haben.

Kajiyas Gitarren sind aus einem weiteren Grund einzigartig: Klangkörper, Hals und alle Verzierungen werden von Hand geschnitzt, nach der jahrhundertealten japanischen Technik der Miyadaiku, die sonst Schreine bauen. Traditionelle Handarbeitstechniken haben in Japan eine stolze Geschichte, sterben aber einen langsamen Tod. Auch die Miyadaiku, die nur mit einem einzigen Stück Holz arbeiten, kommen heutzutage kaum noch gegen maschinelle Prozesse an.

Die Gitarren sind teuer, im Durchschnitt kosten sie 250 000 Yen (rund 2089 Euro). In Onagawa boomen sie trotzdem - auf ihre eigene Weise. Als Yousuke Kajiya die Schiebetür der kleinen Werkstatt aufdrückt und auf den Marktplatz schaut, grinst ihm Yoshiaki Suda entgegen, der Bürgermeister, ein Heavy-Metal-Liebhaber. Suda ist auch Fan der Glide-Gitarren und hat selber eine Maßanfertigung in Auftrag gegeben. »Wann ist sie eigentlich fertig?«, fragt er so bittend und vorsichtig, dass es scheint, der wahre Chef dieser Stadt ist nicht der Bürgermeister, sondern der Gitarrenhersteller.

200 Meter weiter zur Küste öffnet dieser Tage ein Restaurant seine Türen, dessen Gebäude vor fünf Jahren in den Wellen verschwand. »Chinesische Küche, japanischer Fisch!«, ruft ein Koch in grünem Kittel den Passanten entgegen. Er verteilt nicht die Speisekarte, sondern kleine, flache Dreiecke aus Plastik. Auf den Plektra, mit denen E-Gitarrenspieler die Saiten anschlagen, ist der Name seines Restaurants gedruckt. »Ich bin Eric-Clapton-Fan«, sagt der Mann erklärend. Als wäre es das Normalste der Welt, mit einem Plektron für sein Restaurant zu werben. Musik ist heute so allgegenwärtig in Onagawa, dass man meinen könnte, Japans nächster großer Rockmusiker kann nur von hier kommen. Nicht nur wegen der vielen Musikfans und der Lautsprecher, über die selbst die Fußgängerzone ständig mit ruhigen Piano- und Gitarrenmelodien versorgt wird. Auf die Ruinen der Küstengegend hat die Stadt Onagawa ein einstöckiges Begegnungszentrum gebaut. Im größten Raum sind Bilder der Katastrophe ausgestellt. Die meisten Räume, die davon abgehen, sind Tonstudios. In einem üben gerade zwei Teenager ihre neuen Songs. »Zwei Stunden sind wir hergefahren. Das hier ist heute das einzige Studio in der Region«, sagt Kippei Kumagai. Der 17-Jährige, mit Lederjacke und fetziger Frisur, schlägt den Riff von »Under the Bridge« der Red Hot Chilli Peppers an. Es erinnere ihn an die Tage der Katastrophe: »I don’t ever wanna feel … like I did that day...«

In den Wochen nach dem Tsunami und der Reaktorkatastrophe von Fukushima schrieben Musiker Lieder, der Tragödie und ihren Opfern gewidmet. Andere haben ihr Leben umgestellt und alles auf eine Karte gesetzt. Yousuke Kajiya hat es noch lange nicht geschafft, sein Business ist immer noch in der Start-up-Phase. Aber immerhin: Seit er Anfang des Jahres auch die Gitarrenwerkstatt nach Onagawa umgesiedelt hat, ist er in Japan ein Medienstar. Zeitungen kommen regelmäßig in die Kleinstadt, Fernsehsender übertragen Bilder von Gitarren, die auf Ruinen fußen.

Werden die handgemachten Stücke bald zu einem Muss für Sammler? Wird ihre Beschaffenheit mit dem weichen Tohoku-Holz auch einen neuen Tohoku-Sound prägen? Im kleinen Tonstudio spielt Kippei Kumagai den nächsten Rockklassiker an, »As Tears Go By« von den Rolling Stones. »All I hear is the sound of rain falling on the ground, I sit and watch as tears go by.«

Gemeinsam mit dem Bürgermeister will Glide dieses Jahr einen Wettbewerb veranstalten, um die besten neuen Lieder zu suchen. »Vielleicht werden dann fröhliche Klangwellen aus Tohoku schwappen«, sagt Yousuke Kajiya. Vielleicht entspringt bald eine Melodie aus dieser gebeutelten, wiedererstarkten Kleinstadt. Eine, an die sich jeder Japaner erinnern wird.

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