Drohungen aus Ankara verfangen nicht

Berlin und Brüssel reagieren zurückhaltend auf Ankündigung der Türkei, Flüchtlingsdeal notfalls platzen zu lassen

  • Fabian Lambeck
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Türkei droht, den Flüchtlingspakt mit der EU aufzukündigen, sollte die Visafreiheit nicht bald kommen. Berlin und Brüssel geben sich unbesorgt. Auch weil derzeit kaum Flüchtlinge kommen.

»Drohungen und Ultimaten - der neue Stil der Erdogan-Türkei. Wir sind bei der Erfüllung der 72 Kriterien für die Visafreiheit nicht auf dem türkischen Basar.« Mit diesen markigen Worten reagierte CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer am Montag auf die Ankündigung des türkischen Außenministers, den Flüchtlingsdeal mit der EU platzen zu lassen, sollte nicht bis Oktober die Visafreiheit für alle türkischen Staatsbürger gelten. »Wenn es nicht zu einer Visaliberalisierung kommt, werden wir gezwungen sein, vom Rücknahmeabkommen und der Vereinbarung vom 18. März Abstand zu nehmen«, drohte Ankaras oberster Diplomat Mevlüt Cavusoglu in der »Frankfurter Allgemeinen« vom Montag. »Es kann Anfang oder Mitte Oktober sein - aber wir erwarten ein festes Datum«, so der Minister, der seine Doktorarbeit in London einst mit einem EU-Stipendium finanzieren konnte.

Dass der CSU-Generalsekretär in dieser Drohgebärde einen »neuen Stil« in der Politik Erdogans erkannte, zeugt vom schlechten Gedächtnis des christsozialen Einpeitschers. Denn immer wieder drohte Ankara damit, den Deal platzen zu lassen. So Anfang Juni, als es hieß, die türkische Regierung wolle das Rücknahmeabkommen für illegal eingereiste Flüchtlinge suspendieren. Ankara werde das Abkommen erst wieder in Kraft setzen, wenn die von der EU für türkische Bürger zugesagte visafreie Einreise in den Schengen-Raum beschlossen sei, meldeten türkische Medien.

Doch seit die Balkanroute dicht ist, kommen kaum noch Flüchtlinge über die Türkei, die Ankara zurücknehmen müsste. Zumal griechische Asylbehörden die Türkei nicht als sicheren Drittstaat sehen und kaum Flüchtlinge retour schicken.

Trotzdem schlugen die Worte des Außenministers am Montag hohe Wellen. Die CSU bezeichnete die Visafreiheit in der aktuellen Lage als »völlig ausgeschlossen«. Generalsekretär Scheuer forderte unmissverständlich: »Die EU muss jetzt klare Verhältnisse schaffen.«

Auch SPD-Chef Sigmar Gabriel mahnte: »In keinem Fall darf sich Deutschland oder Europa erpressen lassen.« Mit Blick auf die Entwicklungen in der Türkei sagte er: »Ein Land, das sich auf den Weg macht, die Todesstrafe wieder einzuführen, entfernt sich so drastisch von Europa, dass natürlich damit auch alle Beitrittsverhandlungen letztlich überflüssig werden.«

Aus der LINKEN kamen am Montag ähnliche Töne: »Der türkische Präsident Erdogan baut die Türkei in einen islamistischen Unterdrückerstaat um. Für die von Ankara geforderte Gewährung der Visafreiheit fehlt jede Grundlage«, sagte Sevim Dagdelen, Sprecherin für Internationale Beziehungen der Linksfraktion im Bundestag.

Mehr Verständnis für die Position der Türken zeigte der CDU-Europapolitiker Elmar Brok: »Die Türkei hat bislang ihren Teil im Flüchtlingsdeal erfüllt. Jetzt mahnt sie an, dass die EU auch ihren Teil erfüllt. Das ist legitim«, sagte Brok der Online-Zeitung »Huffington Post«. »Wir sollten die übrigen zwei Monate nutzen, mit der Türkei in Ruhe zu verhandeln«, so Brok. Ohne das Abkommen mit Ankara kämen wieder Millionen Flüchtlinge nach Europa.

Demonstrativ gelassen gab sich am Montag der Sprecher des Auswärtigen Amts, Martin Schäfer. Die Äußerungen des türkischen Ministers sehe er »nicht als Ultimatum oder als Drohung«, sagte Schäfer und betonte: Die Bundesregierung wolle über einen Zeitpunkt für die Visumfreiheit erst dann sprechen, wenn Ankara alle Voraussetzungen erfüllt habe. »Dann kann der nächste Schritt gegangen werden«, so Schäfer. Das sagte Schäfer auch in dem Wissen, dass Ankara nicht willens ist, alle Voraussetzungen zu erfüllen. Brüssel und Ankara hatten vereinbart, dass die Türkei 72 Kriterien erfüllen muss, bevor die Visafreiheit gilt (siehe Kasten).

Auch die EU-Kommission will keinerlei Ultimatum akzeptieren. »Wenn die Türkei die Visaliberalisierung haben möchte, müssen die Vorgaben erfüllt werden«, sagte eine Sprecherin am Montag in Brüssel. Dies habe EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mehrfach ganz klar gemacht. Noch Ende April hatte die Kommission Ankara Mut gemacht und verlautbaren lassen, dass die Türkei bereits 60 der 72 Kriterien erfüllt habe. »Das schwerste Thema in den Verhandlungen sind derzeit noch die Antiterrorgesetze in der Türkei«, sagte ein Kommissionsvertreter damals. Daran hat sich nichts geändert. Noch immer weigert sich Erdogan, die umstrittenen Anti-Terror-Gesetze zu reformieren.

Ursprünglich war vereinbart, den Visa-Zwang bereits zum 1. Juli aufzuheben. Doch Ende Mai war absehbar, dass der Zeitplan nicht eingehalten werden kann. Nach einem Treffen mit Erdogan hatte Kanzlerin Angela Merkel in der ihr eigenen Diktion erklärt, dass zum 1. Juli »die Bedingungen noch nicht erfüllt sein werden«. Eine etwas verschwurbelte, aber deutliche Absage an Ankara.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -