Italien: Schwere Nachbeben sind weiterhin möglich

Der Seismologe Dr. Thomas Braun über die Unvorhersehbarkeit von Erdbeben und Misswirtschaft im Bauwesen

  • Wolf H. Wagner
  • Lesedauer: 4 Min.

Wie kam es zu dem Beben in der Nacht auf Mittwoch?
Der schwere Erdstoß, der um 3.36 Uhr die Region zwischen Norcia und Amatrice erschüttert und zu den schweren Zerstörungen geführt hat, gehört zu den immer wiederkehrenden seismischen Bewegungen, die im Zentralapennin vor sich gehen. Die westeuropäische Platte drückt ostwärts, die adriatische, sie eine Spitze der afrikanischen Erdplatte ist, drückt westwärts gegen die italienische Halbinsel. Infolge des Plattendriftens schiebt sich der Apennin auseinander – die Drift geht sowohl in nordöstliche, als auch in südwestliche Richtung. Nach GPS-Signalen von Kontrollmarken die wir in der Region gesetzt haben, verschiebt sich das Gebirge jährlich um einen Millimeter. Das klingt wenig, kann aber, wie wir jetzt sehen, erhebliche Folgen tragen. Die seismischen Ereignisse, die dabei auftreten, nennen wir Abschiebebeben. Typische Erdbeben dieser Art waren das von 1997 in Colfiorito und Assisi sowie das Erdbeben, das am 6. April 2009 den Abruzzenhauptort L’Aquila zerstört hat.

Gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen diesen beiden und dem aktuellen Erdbeben?
Einen zeitlichen Zusammenhang kann man nicht sehen. Wäre dies möglich, könnten wir ja auch Erdbeben voraussehen und die Bevölkerung rechtzeitig warnen. Was wir sehen können, ist jedoch, dass das eine Beben nördlich, das zweite südlich des jetzigen Epizentrums lag. Man kann das also so erklären, dass es sowohl in der nördlichen als auch in der südlichen Zone eine Art Entlastung der tektonischen Spannungen gab. Dagegen habe sie sich in der Mitte sozusagen Spannungen aufgebaut, die sich mit dem Erdbeben vom Mittwoch und den bislang etwa 1000 Folgestößen zu entladen beginnen.

Zur Person

Dr. Thomas Braun arbeitet als Seismologe am Institut für Geophysik und Vulkanologie, Abteilung Arezzo. Er beschäftigt sich seit Jahren mit den seismischen Aktivitäten der Apenninen und auch des Amiata-Gebiets. Das Nationale Institut hat Sitze in Rom, Mailand, Bologna, Pisa, Neapel, Catania und Palermo.

Am Freitagmorgen gab es nochmals einen Erdstoß der Stärke 4,8. Kann man nun mit einem Ende des Bebens rechnen?
Das kann man nicht genau vorhersagen. Es könnte sein, dass sich die Erde mit einer Vielzahl von kleineren Erdstößen um Magnituden zwischen 2 und 3 beruhigt. Unsere Erfahrungen aus den vergangenen Ereignissen zeigen jedoch, dass es mit einem gewissen zeitlichen Abstand nochmals zu heftigen Erdstößen kommen kann. Im Falle des Bebens von Assisi am 26. September 1997 verzeichneten wir am 14. Oktober desselben Jahres nochmals einen Erdstoß der Stärke 5,5 in Sellano-Preci. Und ein halbes Jahr später gab es noch ein Beben in der Stärke von 5,2.

Auch nach dem Beben von L’Aquila gab es in den Tagen zwischen dem 6. und 13. April noch etliche Stöße der 5-er Stärke. Am 22. Juni erschütterte ein Beben der Stärke 4,2 den elf Kilometer entfernten Ort Pizzoli. Daraus schlussfolgern wir, dass es auch in den kommenden Tagen noch zu weiteren schweren Erdstößen kommen kann. Von Entwarnung für die Region kann noch lange nicht die Rede sein.

Nach dem Beben von L’Aquila wurden Verantwortlichen sowohl vom Zivilschutz als auch vom INGV der Vorwurf gemacht, die Bevölkerung beruhigt und nicht rechtzeitig gewarnt zu haben. Haben sie eine Handhabe, zum Beispiel auf erdbebensicheres Bauen einzuwirken und Auflagen zu erteilen?
Nein, diese Möglichkeiten haben wir nicht. Wir können nur unsere Forschungsergebnisse zur Verfügung stellen. So können Architekten und Bauingenieure, aber auch die Behörden zum Beispiel bei unserem Institut eine online-Karte und Daten abrufen, auf der nicht nur die erdbebengefährdeten Zonen verzeichnet sind, sondern auch die Maximalbeschleunigungen der Erdbewegungen. Aus diesen Daten können sie ihre Berechnungen für Neubauten oder Sanierungen anstellen. Es gibt da gute Erfahrungen, zum Beispiel in Norcia. Die Stadt wurde nach dem Beben von 1997 zum Teil saniert, zum Teil neu aufgebaut, und die Bauten haben dem jetzigen Erdbeben mit einer Magnitude von immerhin 5,3 standgehalten.

Leider muss man auch Negativbeispiele nennen: Gerade in Amatrice wurden nach den Erdbeben von 2009 eine Schule sowie der Kirchturm wieder aufgebaut, jedoch mit dem falschen Material und offensichtlich ohne Berücksichtigung der Normen. Beide stürzten nun ein.

Wird an Auflagen und Vorschlägen vorbeigebaut?
Das ist eine Frage, die wir Wissenschaftler nicht beantworten können. Es scheint so – wie im Fall von L’Aquila –, dass viele Gelder nicht dort ankommen, wohin sie bestimmt sind. Oftmals spielt auch Korruption und Misswirtschaft im Bauwesen eine Rolle, wo falsch am Material gespart oder schlechtes Material eingesetzt wird, um den Profit zu steigern. Im Ergebnis stürzen dann Werkhallen ein wie 2012 in Modena und begraben Menschen unter sich. Diese Toten wären nicht nötig gewesen, hätte man allerseits die Normen eingehalten.

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