All die Irrtümer überwinden

Musiker, Musikwissenschaftler, Marxist: Georg Knepler würde heute 100

  • Gerd Rienäcker
  • Lesedauer: 5 Min.
Über sein Leben, über sein Wirken nachzudenken, stößt auf politische, soziale, kulturelle Gegebenheiten fast eines Jahrhunderts: Auf die Geschichte jüdischer Intellektueller ebenso wie auf jene der Arbeiterbewegung, der Kommunistischen Parteien, schließlich auf jene der Kulturen und Künste. Georg Knepler ist Musiker, Dirigent, Musikwissenschaftler, und dass er als Musikwissenschaftler wahrhaft bahnbrechend wirkte - und immer noch wirkt -, lässt sich ohne das Sein des Musikers, Dirigenten nicht verstehen: Er wusste, wovon er sprach und schrieb; Musikologen, die nicht musizierten, konnten auf ihn sich schwerlich berufen. Freilich, wer glaubt, nur von Musik etwas zu verstehen, versteht auch davon nichts: Diesen Satz von Hanns Eisler - oder ihm unterstellt, was seinen Belang nicht mindert! - hielt Knepler noch an seinem 90. Geburtstag manchen Kollegen und Studenten vor. Was es damit auf sich hat, ist wahrhaft erlebt, mithin erstritten: inmitten der Arbeiterkämpfe im Wien der zwanziger und anfangdreißiger Jahre - sie brachten ihn zeitweise ins Gefängnis -, in Berlin vor der Schwelle des Nationalsozialismus - Knepler arbeitete mit Bertolt Brecht und Hanns Eisler zusammen, diesseits, jenseits der Uraufführung der »Wiegenlieder einer Arbeitermutter«, als Klavierbegleiter von Helene Weigel -, im Exilland England, nach 1945 erneut in Wien, seit 1950 in Berlin. Georg Knepler hat sich mit der Oktoberrevolution, mit den kommunistischen Bewegungen, mit dem Marxismus auseinandergesetzt, identifiziert, als es für ihn und Seinesgleichen riskant war - gerade noch entkam er der Gestapo! Was lag näher, als dass er für den Aufbau einer neuen, sozialistischen Gesellschaft sich einsetzte - sei es als Gründungsrektor der jet-zigen Hochschule für Musik »Hanns Eisler«; sei es als Ordinarius für Musikgeschichte an der Berliner Humboldt-Universität; sei es in verschiedenen Gremien der Musik und Musikwissenschaft. Dass Karikaturen der fünfziger und sechziger Jahre ihn mit einer Zündschnur versahen, war nicht nur freundlich gemeint: Denn gegen bürgerliche Musikkonzepte in Theorie und Praxis anzugehen, stieß zunehmend auf Gebrechen eben jener Gesellschaft, der Knepler sich verschrieben hatte, auf Gebrechen, vor denen die Augen zu verschließen er immer weniger bereit war: kaum verwunderlich, dass in den fünfziger Jahren Etliche an seinem Hinauswurf als Rektor der Musikhochschule bastelten, dass er am Ende der Sechziger für mehrere Jahre das von ihm zuvor geleitete Musikwissenschaftliche Institut der Humboldt-Universität nicht betreten durfte, schlimmer noch, der Zerstörung des Marxismus durch »westliche Moden« geziehen wurde. In Wahrheit hatte er den Schritt ins wirklich Interdisziplinäre gewagt, dabei die Erkenntnisse moderner Naturwissenschaften nicht mehr ausgespart; auch begriff er den Marxismus niemals als Dogma, umso mehr als Anleitung zu permanentem Experiment, und noch heute sind die Fragen, die er seit dem Ende der sechziger Jahre stellte, großenteils unbeantwortet. Man lese sein Buch »Geschichte als Weg zum Musikverständnis« (Leipzig 1977, 1982), namentlich seine Annotationen zum Fortschritt, zu den Perspektiven der Menschheit! Nicht dass sein politisches Wirken, sein Verständnis marxistischer Musikwissenschaft, sozialistischer Musikkultur von Kurzschlüssen, Irrtümern, theoretischen und praktischen Fehlhand-lungen frei gewesen wäre. Involviert in ebenso rigorose wie unsachliche Formalismus-Debatten der frühen und mittleren fünfziger Jahre, schloss er Studenten zwischenzeitlich vom Studium aus, weil sie sich für Bela Bartók, Igor Strawinsky oder Anton Webern einsetzten. Und noch eingangs der sechziger Jahre war in Vorlesungen zu hören, dass die zweite Wiener Schule sich gänzlich in »Kämpfe an falschen Fronten« verstrickt habe. Gelegentlich schenkte er Komponisten und Musikern Glauben, die sich die Debatten gegen Modernismus zunutze machten, um stockreaktionäre Musikkonzepte durchzusetzen. Mühe bereitete es ihm, Mozarts tiefe Frömmigkeit zu erkennen, zu würdigen. Sein Verständnis von Musikgeschichte, zwischenzeitlich war es recht einlinig, durchwirkt von Lesarten gesellschaftlichen und künstlerischen Fortschritts, die aus der Aufklärung sich herleiten. Und sein Verständnis des Marxismus zehrte jahrzehntelang von all den Verkürzungen, die der Marxismus-Leninismus mit sich gebracht hatte. Davon sich endgültig zu lösen geht noch heute nicht ohne Mühen, ohne Konflikte ab. Umso beeindruckender dürfte sein, wie konsequent Georg Knepler all die Irrtümer zu überwinden suchte, und dies seit der Mitte der sechziger Jahre - nicht, wie üblich, im Geheimen, sondern öffentlich: In seinen Schriften, darin er frühere Irrtümer beim Namen nannte, ohne sie zu bagatellisieren, auf Konferenzen - zu Zeiten, als derlei Korrekturen nicht erwünscht wa-ren -, in Gesprächen mit ehemaligen Studenten, denen er früher Unrecht getan hatte: Knepler hatte den Mut, sich bei ihnen zu entschuldigen, den Mut zu bereuen, die Traute, mit führenden Kulturpolitikern, auch mit renommierten Kollegen in der DDR sich zu überwerfen, wenn es anders nicht mehr ging! Den Mut, neue, vor allem weitreichende Fragen zu stellen: politisch, kulturell, künstlerisch. Den Irrtümern und Korrekturen jedoch war gemeinsam: die Suche nach Alternativen gegenüber jenem Kapitalismus, den er zu Genüge erlebt hatte, die Sorge, dass es zu neuen verheerenden Kriegen, möglicherweise zu einem dritten Weltkrieg kommen würde, die Verzweiflung angesichts des Hungers in der Welt. »Dass man«, so Knepler im Jahre 1991, »so wenig von Volkssängern der dritten Welt hört, hängt sicher damit zusammen, dass sie buchstäblich verhungern«. Und, an die Repräsentanten sogenannt Vergleichender Musikwissenschaft gerichtet: »Sorgen Sie dafür, dass der Hunger gelindert wird.« (Noch den Papst wünschte der Fünfundneunzigjährige in den Kampf gegen Kriege und Hunger einzubeziehen; Jahrzehnte früher hätte er, der überzeugte Atheist, nicht daran gedacht! Gefragt, warum es so war, antwortete er bitter: »Der Stalinismus war eine Pest.«) Seit den neunziger Jahren arbeitete er an einem Buch über Geschichte, Geschichtsschreibung, er hat es nicht vollenden können. Die Veröffentlichung enthält wenige ausgearbeitete Kapitel (darunter eines zur Frühgeschichte, eines über Charles Darwin, eines über Karl Marx) und etliche Notizen, aus denen Kapitel hätten werden können. Die Überschrift »Macht ohne Herrschaft« spricht für sich. Einleitend artikulierte Knepler sein Credo: Nachzuweisen, dass die Menschheit andere Optionen hat als die meist Wahrgenommenen. In den letzten, ungewöhnlich intensiven Gesprächen forderte er seine Freunde auf, sich mit vielerlei politischen Bewegungen außerhalb Europas zu beschäftigen - massenhafte Analysen wären zu machen, um zu sehen, ob sich daraus Alternativen für den Kapitalismus ergeben. Er wollte die Hoffnung darauf nicht aufgeben, und er hat recht damit.
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