Mit der Hitze der Gefühle gegen ein »kaltes Leben«

Elena Ferrante: »Meine geniale Freundin« ist bereits ein Weltbestseller, sie aber bleibt im Dunkeln

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 6 Min.

Was wird Elena Ferrante tun, wenn es einen hohen Literaturpreis entgegenzunehmen gilt? Wie lange kann sie es schaffen, das Geheimnis um ihre Person aufrechtzuerhalten. Sie will allein durch ihre Bücher sprechen und hält es für eine Fehlentwicklung, dass in der Öffentlichkeit die Figur des Autors heute manchmal wichtiger genommen wird als sein Werk. Scharfsinnig, wie sie ist, dürfte sie freilich auch einkalkuliert haben, dass das Rätseln um ihre Identität einen Werbeeffekt birgt.

Allerdings haben ihre ersten beiden auf Deutsch erschienenen Romane, »Lästige Liebe«, 1994 bei S. Fischer, und »Tage des Verlassenwerdens«, 2003 bei List, längst nicht das starke Echo gefunden, wie es für »Meine geniale Freundin« zu erwarten ist. Im italienischen Original 2011 publiziert, wurde das Buch 2015 von der BBC in die Auswahl der 20 besten Romane des Jahrhunderts aufgenommen und ist bereits weltweit zum Bestseller geworden.

Das heißt ja auch: Es liest sich gut und leicht. Elena Ferrante - die Ich-Erzählerin im Roman heißt Elena Greco - spielt mit dem Anschein einer autobiographischen Geschichte. Diese handelt von einem Mädchen aus einem armen Viertel von Neapel, Tochter eines Pförtners, und ihrer besten Freundin Lila, deren Vater Schuhmacher ist.

Dabei steht nicht von ungefähr vor Beginn der Handlung ein Personenregister. Zum einen ist es natürlich hilfreich, damit man sich nicht verirrt zwischen Nino, Alfonso, Pasquale, Antonio, Gigliola und wie die etwa Gleichaltrigen alle heißen. Doch vor allem erhält man hier Angaben über ihre Herkunft, die, wie sich zeigt, enorm wichtig sind.

Die fein gekleideten Leute aus Neapels Innenstadt mögen vielleicht alle Bewohner des Rione in einen Topf werfen, aber dort empfindet man enorme Unterschiede. Es gibt eine Rangfolge, die Kindern nicht so wichtig ist bzw. die sie überwinden wollen, die aber Erwachsene wohl in Betracht ziehen müssen.

»Weißt du, was die Plebs ist, Greco?«, wird Elena auf Seite 84 von der Lehrerin gefragt und gibt sich, fast am Schluss, auf Seite 421 bei der Hochzeit ihrer Freundin Lila selbst die Antwort. »Der Pöbel, das waren wir. Der Pöbel, das war das Gezanke ums Essen und um den Wein, war das Gestreite darum, wer zuerst und besser bedient wurde, war dieser dreckige Fußboden, auf dem die Kellner hin und her liefen, und die immer vulgärer werdenden Trinksprüche. Der Pöbel war auch meine Mutter, die sich angetrunken mit dem Rücken gegen die Schulter meines ernsten Vaters fallen ließ und mit weit aufgerissenem Mund über die sexuellen Anspielungen des Metallhändlers lachte. Alle lachten, auch Lila …«

Es will einem scheinen, als habe sich auch die Autorin mühsam aus den Fesseln ihrer Herkunft befreit, und niemand, der sie kannte und kennt, soll davon wissen. Vielleicht hat sie dafür auch einen hohen Preis bezahlt. Vielleicht soll es in ihren intellektuellen Kreisen auch verborgen bleiben, dass sie nebenbei Unterhaltungsromane schreibt? Mutmaßungen, die erst zu Gewissheiten werden, wenn wir den letzten der vier Romane kennen werden, die von nun an in schneller Folge bei Suhrkamp erscheinen sollen. Wer erst einmal in das vorliegende Buch eingetaucht ist, wird weiter lesen wollen.

Diese Welt aus Armut, Gewalt und Gier - es gibt sie überall, aber hier, am Rande von Neapel und mit den Augen der Autorin, tritt alles deutlicher zutage. Aber da ist nichts Niederdrückendes beim Lesen zu spüren, im Gegenteil: Mitreißend wirkt der Wunsch nach Befreiung, diese jugendliche Energie, die es wohl allerorten gibt (hier denkt man auch an Flüchtlinge) und die im Roman der vorherrschende Lebensimpuls der beiden Freundinnen ist. Die Großeltern, die Eltern - »ich machte keinen großen Unterschied zwischen ihnen« - es waren »Geschöpfe, die in meinen Augen alle eine Art kaltes Leben führten«. (Was womöglich eine jugendliche Täuschung sein könnte.) »Wirklich von der Hitze der Gefühle, vom Ungestüm der Gedanken mitgerissen waren nur wir.«

Elena kämpft um sozialen Aufstieg - durch Fleiß, durch Leistung - und weiß genau, dass Lila die Begabtere ist. Aber deren Eltern können und wollen ihr keine weitere Schulbildung ermöglichen. (Pförtner in der Stadtverwaltung und Schuhmacher - das macht offenbar einen Unterschied.) Da heiratet Lila mit 16 Stefano Caracci, den Sohn des örtlichen Lebensmittelhändlers. Der ist einigermaßen vermögend, Lilas Eltern sind stolz, doch sie selbst ist sich im Klaren, wie Caraccis Familie zu Einfluss kam. Der Reichste im Viertel ist indes der Besitzer der Solarara-Bar, den sie als Trauzeuge akzeptieren muss, so wie er mit seinem Geld allen seinen Willen aufzwingen kann.

Elena Ferrante - sie publizierte unlängst im »Guardian« einen klugen Brief zum Brexit - ist eine politisch wache Autorin. Oder doch ein Mann, der sich auf geniale Weise in eine Frauenrolle begibt? Ein Quäntchen Unsicherheit bleibt. Vor allem aber lebt das Buch von einer Sprache, die sehr genau und dabei ohne Schnörkel poetisch ist. Wie treffend die widersprüchlichen Gefühle von Heranwachsenden hier in Worte gefasst sind, das Unbemerkte, Verborgene, Verhohlene! Weil Elena aus der Rückschau berichtet, kann sie vieles durchdenken. Der Anlass ist, dass sich ihre Freundin mit 66 Jahren unauffindbar gemacht hat. Später werden wir sicher erfahren, wie das zusammenhängt.

Die »geniale Freundin«, die sich selber Lesen, Latein und Griechisch beibrachte, ist ja immer auch die beneidete, weil sie zudem mutiger ist, ungestümer, entschlossener - und immer schöner wird. Dass »sie das hatte, was mir fehlte«, erlebt Elena »in einem fortwährenden Spiel von Wandlungen und Kehrtwendungen, die uns, mal fröhlich, mal schmerzhaft, einander unentbehrlich werden ließen«.

Wie würde sich der Roman wohl aus Lilas Sicht lesen? »Du bist meine geniale Freundin, du musst die Beste von allen werden«, sagt Lila gegen Schluss, als sie nackt vor Elena steht, um sich waschen und für die Hochzeit ankleiden zu lassen. Und »ich habe noch heute das Plätschern des Wassers im Ohr, habe noch heute den Eindruck im Gedächtnis, dass das Kupfer der Wanne die gleiche Konsistenz hatte wie Lilas Körper, der glatt fest und ruhig war«. Werden wir später von Frauenliebe lesen?

Was Elena auch erlebt und beobachtet, es gewinnt Kraft und Ausstrahlung. »Sie verstärkte die Realität, während sie sie auf Worte reduzierte, sie flößte ihr Energie ein«, sagt Elena über die Freundin - die Autorin scheint dieses Talent übernommen zu haben.

Elena Ferrante: Meine geniale Freundin. Kindheit, frühe Jugend. Roman. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp Verlag. 423 S., geb., 22 €.

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