Wohl kein Prozess gegen SS-Helferin

Auschwitz-Funkerin lebte Jahrzehnte unbehelligt in Schleswig-Holstein.

  • Dieter Hanisch, Kiel
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Anklageschrift aus dem Vorjahr spricht von Beihilfe zum Mord in 266 390 Fällen. Der Prozess gegen eine 92-jährige ehemalige SS-Helferin aus dem Konzentrationslager Auschwitz wird nun wohl doch nicht mehr stattfinden, weil der Angeschuldigten laut einem Gutachten eine fortwährende Verhandlungsunfähigkeit attestiert wird. Dies teilte das Landgericht Kiel jetzt mit. Die Frau ist eine von wenigen lebenden vermeintlichen Tätern des Auschwitz-Holocaust.

Die aus dem ostpreußischen Sensburg stammende Helma M. war vom 25. April bis 7. Juli 1944 Funkerin in der Kommandantur von Auschwitz und laut Anklagebehörde damit Teil der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie. Laut Generalstaatsanwaltschaft in Schleswig habe sie helfend mitgewirkt bei der systematischen Ermordung aus Europa verschleppter Juden. In dem ihr zur Last gelegten Zeitraum betraf dies speziell die sogenannte Ungarn-Aktion, bei der es sich um die Deportation von rund 400 000 Juden aus Ungarn ins Lager Auschwitz-Birkenau handelte, wovon knapp 300 000 den Tod fanden. Mit der relativierenden Aussage von M., sie sei nur »Nachrichtenmaid« gewesen, wird ihre schuldhafte Rolle in der aktuellen Rechtsprechung nicht geschmälert.

1934 trat die Angeschuldigte als damals Elfjährige dem Bund Deutscher Mädel bei, 1941 der NSDAP. Die gelernte Stenotypistin war für die Deutsche Arbeitsfront tätig und leistete ihren Reichsarbeitsdienst. Um nicht für einen Rüstungsproduktionsbetrieb herangezogen zu werden, meldete sie sich 1943 bei der SS-Nachrichtenschule, wo sie zur Funkerin ausgebildet wurde. Bei ihrem Einsatz im Vernichtungslager will sie von der systematischen Tötung nichts mitbekommen haben. Es waren aber nicht nur Funksprüche in Bezug auf Deportationstransporte, die über die Kommandantur abgewickelt wurden. Die Strafverfolger verweisen auch auf Lieferanforderungen vom Giftgas Zyklon B. Als Tarnung war dann immer die Rede von einer »Maßnahme« oder von einer Juden-Evakuierung bzw. Umsiedlung.

Bis Kriegsende arbeitete Helma M. noch als Funkerin im KZ Natzweiler im besetzten Elsass. Bis zum Sommer 1948 war sie in verschiedenen Internierungslagern der Alliierten und wurde immer wieder zu ihren Tätigkeiten als SS-Angehörige befragt. Dabei stellte sie ihre Arbeit als Funkerin stets als unpolitisch heraus. Eine Beteiligung an den Morden konnte ihr nie nachgewiesen werden, mehrere Verfahren gegen sie wurden eingestellt. Erst 2013 wurden neuerliche Ermittlungen gegen die jahrzehntelang unbehelligt in Neumünster lebende Frau eingeleitet, die schließlich zur Anklage führten. Inzwischen lebt sie in einem Seniorenstift. Anfang des Jahres hieß es in einem ärztlichen Urteil über ihren Gesundheitszustand, sie könne einer Verhandlung von einer Stunde täglich beiwohnen. Eine neuerliche Begutachtung sieht das anders. Eine abschließende Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft steht noch aus.

Max Eisen, gebürtiger Ungar, hat mehrere Familienangehörige in Auschwitz verloren. Er hat das NS-Martyrium als damaliger Teenager überlebt und ist Nebenkläger. Er wünscht sich, dass es noch zum Verfahren kommt. Brigitte Profe von der Landsmannschaft Ostpreußen in Neumünster hält hingegen zur Beschuldigten: Das sei wie früher in der DDR gewesen, man habe mit dem Strom schwimmen müssen. Profe meint zum Fall der Helma M.: »Wer etwas dagegen gesagt hätte, wäre selbst im KZ gelandet.«

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