Die Eier sind längst gelegt

Bald ist wieder Grippesaison. Hühner liefern den »Bioreaktor« für die Impfstoffproduktion. Dabei gibt es Alternativen. Von Steffen Schmidt

  • Steffen Schmidt
  • Lesedauer: 5 Min.

Die geschriebene Geschichte der Menschheit wird nicht nur durch Kriege, Revolutionen und Naturkatastrophen gegliedert. Immer wieder brachten auch Seuchen Zäsuren, etwa die Pest im Mittelalter. Und im vergangenen Jahrhundert brachte sich in den Jahren 1918 bis 1920 eine lange unterschätzte Virusinfektion nachhaltig in Erinnerung: die Grippe. Damals starben an ihr mehr Menschen als im Ersten Weltkrieg.

Wenn wir heute keine vergleichbaren Seuchenzüge mehr haben, verdanken wir das neben verbesserter Hygiene und Wasserversorgung zwei medizinischen Erfindungen: den Antibiotika und den Schutzimpfungen. Während die Antibiotika gegen manche bakterielle Erreger inzwischen zur stumpfen Waffe zu werden drohen, konnten mit Hilfe von Impfungen immerhin die Pocken ausgerottet werden und vielleicht auch bald die Kinderlähmung.

Bei der Grippe besteht da kaum Aussicht. Ein Grund ist, dass es mit den Wasservögeln ein riesiges natürliches Reservoir für den Erreger gibt, Varianten des Grippevirus befallen auch Schweine und Menschen. Zudem ist das Virus extrem variabel. Den Menschen befallen Viren der Typen A und B. Sie besitzen an der Oberfläche eine Unzahl winziger Stäbchen mit einem dicken Kopf, um Körperzellen zu kapern. Davon gibt es zwei Typen: das Hämagglutinin (H) und die Neuraminidase (N). Nach den 18 H-Subtypen und 11 N-Subtypen werden die verschiedenen A-Viren benannt. Besonders wandelbar ist der Kopf der H-Moleküle. Einmal geimpft oder erkrankt, ist man deshalb nur gegen den konkreten Virustyp immun. Da die alljährlich im Spätherbst beginnenden Grippewellen aber selten von den gleichen Virustypen ausgelöst werden, ist in der Regel jedes Jahr eine neue Impfung fällig. Welche Zusammensetzung der Impfstoff haben muss, ermittelt die Weltgesundheitsorganisation alljährlich durch weltweite Datensammlung über Neuerkrankungen.

Die Herstellung des Impfstoffs ist seit 80 Jahren im Kern gleich geblieben. Man vermehrt Grippeviren in Hühnereiern, tötet sie ab und verwendet sie entweder ganz oder (heute meist) die abgetrennten und gereinigten Oberflächenmoleküle zum Impfen. Diese Virusbestandteile reizen das Immunsystem zu einer Abwehrreaktion, der Geimpfte erwirbt Immunität. Damit das alles funktioniert, müssen von zertifizierten Züchtern rechtzeitig unter möglichst keimfreien Bedingungen Legehennen aufgezogen werden, die die nötigen Eier liefern - immerhin ein bis zwei Stück pro Impfdosis. Mit allen Vorbereitungen, der Produktion und den vorgeschriebenen Tests liegen zwischen der Bestimmung der drohenden Viren und dem fertigen Impfstoff mehrere Monate. Bei der sogenannten saisonalen Grippe mag das angehen, doch wenn es zu länderübergreifenden Infektionen mit einem unerwarteten Virustyp kommt, ist das zu langsam. Und für ein Land wie China oder Indien dürfte es nicht mal genug Eier geben.

Es geht auch anders. Wie in anderen Bereichen medizinischer Biotechnologie kann man geeignete Zellen von Säugetieren oder Vögeln in Reaktoren züchten, sie infizieren und anschließend die Viren wie gehabt isolieren und zu Impfstoffen verarbeiten. Tatsächlich hatten die USA nach Erfahrungen mit dem aggressiven Vogelgrippevirus H5N1 im Jahre 2005 einige Hundert Millionen Dollar in entsprechende Förderprogramme investiert. Und tatsächlich wurden 2007 bzw. 2011 in Deutschland zwei in Zellkulturen hergestellte Grippeimpfstoffe zugelassen - Optaflu (Novartis) und Preflucel (Baxter). Nach Aussage des Impfstoffexperten Han van den Bosch von der Freien Universität Amsterdam wurden von Optaflu »erhebliche Mengen« abgesetzt. Nachdem die beiden Hersteller ihr Grippeimpfstoffgeschäft verkauft haben, werden diese Impfstoffe in Deutschland nicht mehr vermarktet.

Ohnehin stammen weltweit rund 95 Prozent der Grippeimpfungen noch aus dem Ei. Auf »nd«-Anfrage erklärt beispielsweise der Branchenriese GlaxoSmithKline (GSK): »GSK hat sich ganz bewusst dazu entschlossen, auf die bewährte Herstellung in Hühnereiern zu setzen. Dieses Produktionsverfahren hat in den vergangenen Jahrzehnten die höchste Verlässlichkeit und Qualität geboten. Das Dresdner Werk ist auf die Herstellung von Grippeimpfstoffen spezialisiert, basierend auf einer Fachexpertise von 40 Jahren.« Ähnliches ist von Sanofi Pasteur zu hören.

Van den Bosch sieht einen Schwachpunkt der Zellkulturen in der bisher relativ niedrigen Ausbeute und dem »Fehlen eines wirklichen Marktvorteils gegenüber den eibasierten Impfstoffen«. Es gebe also für die etablierten Hersteller keinen Anreiz. Anders könnte es für neue Anbieter aus Entwicklungs- oder Schwellenländern sein, die von Anfang an mit Zellkulturen arbeiten. Für wahrscheinlicher allerdings hält der Amsterdamer Wissenschaftler, dass Zellkulturen erst mit gänzlich neuen, sogenannten rekombinanten Impfstoffen oder mit Universalimpfstoffen erfolgreicher werden.

Udo Reichl forscht am Magdeburger Max-Planck-Institut für die Dynamik komplexer Prozesse an der Verbesserung der Zellkulturen. Er sagt: »Wir können in der Forschung demonstrieren, dass das geht. Aber die Impfstoffproduktion ist stark reguliert. Wenn man Änderungen macht, kann es sein, dass man neue klinische Studien braucht. Und die kosten so viel, dass es sich für einen Hersteller der etablierte Verfahren nutzt, nicht lohnt.« Die neuen Verfahren kommen eher bei Firmen aus Ländern wie Taiwan, Korea, Vietnam oder bei kleinen innovativen Firmen zum Zuge, meint Reichl. Er verweist auf ein US-Unternehmen, das frühzeitig auf gentechnische Verfahren gesetzt hat und dessen gentechnisch mit Hilfe von kultivierten Insektenzellen hergestellter Grippeimpfstoff 2013 erstmals in den USA zugelassen worden war. Mit dem Verfahren braucht das Unternehmen Protein Sciences nur noch Wochen, wofür der Prozess mit Eiern Monate benötigt.

Doch auch die konservativen Großkonzerne sind noch nicht abgeschrieben. So hat der heutige Forschungschef von Sanofi Pasteur bereits an den National Institutes of Health der USA an Grippeimpfstoffen geforscht, die gegen viele Virenstämme immunisieren. Man hatte nämlich bereits vor einigen Jahren beobachtet, dass bei den überaus wandelbaren Hämagglutinin-Molekülen der Stiel sowohl von Stamm zu Stamm als auch über längere Zeit konstant bleibt. Ein Impfstoff, der die Immunabwehr auf den Stiel hetzt, müsste also gegen mehrere Virenstämme schützen. Eine kürzlich im Fachblatt »npj Vaccines« (DOI: 10.1038/npjvaccines.2016.1) veröffentlichte Studie eines Teams um Rebecca Cox und Sarah Tete von der Universität Bergen (Norwegen) fand heraus, dass sich bei den 2009 gegen die sogenannte Schweinegrippe H1N1 Geimpften die Antikörper des Immunsystems stärker an die Stiele als an die Köpfe des Hämagglutinins banden. Bis zu einer wirksamen Dauerimpfung gegen Grippe allerdings dürften noch mehr als zehn Jahre ins Land gehen, ist Max-Planck-Forscher Reichl überzeugt.

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