Diese vielen Matrosen
Für Wolfgang Hilbig
Unlängst war’s, Ende August. Der Dichter Wolfgang Hilbig wäre 75 geworden. Das Datum lag niemandem im Weg. Kein Hahn krähte. Eine ungut beleumundete Redewendung. Wieso eigentlich? Wo der Hahn kräht (Brechts Bibel-Gedicht!), kündigt sich ein Verrat an. Wo keiner kräht, ist demnach Hoffnung - auf ein ehrliches Wort, zum Beispiel. Ein Wort für Wolfgang Hilbig: im Sonderheft des »Poesiealbums«, ergriffen von 55 Schriftstellern. Peter Gosse und Ingolf Brökel, Ralph Grüneberger und Clemens Meyer, Lutz Rathenow und Durs Grünbein. Verse über Wesen und Werk eines Großen, eines tagsüber fast nur Stummen, Ungelenken, Stockenden. Der Heizer, Montagearbeiter, der autodidaktische Romantiker - Franz Fühmann nannte ihn einen genialen Trunkenen, »der Arm in Arm mit Rimbaud und Novalis aus dem Kesselhaus durch die Tagebauwüsten in ein Auenholz zieht«. Er hat meisterlich Fäden des Alltäglichen zum Spinnennetz ganz aus Unheimlichkeit verwoben. Der Arbeiter-Dichter im Vorhöllendienst.
Wer an Hilbig denkt, fühlt Bewegung weg von den Illusionen. »Was uns niemals gehörte: es ist soweit,/ es zu verlassen« (Kurt Drawert). Bewegung weg vom scheinbar Festhaltbaren: »Das feuer frißt den stoff, aus dem es wächst« (Andreas Reimann). Bewegung weg von den falschen Wohnlichkeiten - »mach alle türen auf damit die seele/ sich nicht verfängt in dem gebauten zimmer« (Roza Domascyna).
Lyriker Thomas Böhme schrieb 2007 zum Tode von Hilbig: »Die Finsternis/ hat ihre zärtlichste Stimme verloren.« Diese Finsternis. Das Bergbauschwarz der Meuselwitzer Kohlegegend? Das verrußte Kesselhaus, in dem der Heizer Hilbig nachts zwischen den Befeuerungspflichten las und schrieb? Die Finsternis, das ist ein Leben, wo es zum Schwersten wird, sich in die Stimmgabel des Seins einzuschwingen und seinen eigenen Ton zu erwischen. Es ist der Taumel in Kopf und Gemüt, der entsteht, wenn man meint, in allen Zeiten gleichzeitig zu existieren, in all jenen Schändlichkeiten aus Spitzeltum und Anpassung, die von System zu System wachsen. Die Finsternis, das ist der Gruß der Untoten, die in uns weitergeistern. Damit wir die Unwelten nie los werden. »Schaufelnd sah er das/ während ich/ - in vogtländischer Air - / blind/ von der klassenlosen Zukunft/ schwärmte«. So Gabriele Eckart, die seit Jahren in den USA lebt.
Siegmar Faust beschreibt eine der Wohnungen des Dichters, in Leipzig-Leutzsch, da »klafft schon jahrzehntelang eine lücke in/ der brüchigen geschichte der Stadt«. Ja, die Lücke: Ist Hilbig ein schon etwas vergessener Dichter? Nie sind Dichter vergessen. Wir sind, die vergessen - uns, unser wahres Bedürfnis. Dichter warten, sie haben Zeit im Grab, dem ihr Werk doch fern bleibt, und sei es im ewig Geheimen.
Poesiealbum: Sonderheft Wolfgang Hilbig 75. Hrsg. von Volker Hanisch, Grafik: Strawalde und Horst Hussel. Märkischer Verlag Wilhelmshorst. brosch., 48 S., 10 Euro.
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