So unabhängig wie nie

Gregor Gysi will 2017 noch einmal antreten. Als Direktkandidat in Berlin. Tom Strohschneider über die Zeit nach Bielefeld und einen historischen Auftrag

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 6 Min.

Nein, weg war er nun wirklich nie. Vielleicht war es sogar anders herum - seit Gregor Gysi sich aus dem Amt des Fraktionschefs verabschiedet hat, empfanden viele den kleinen, großen Mann der Linkspartei präsenter als zuvor. Und das seit dem Bielefelder Parteitag auch noch ohne die Fesseln, die jedes Spitzenamt bei den Linken mit sich bringt: Kompromisse suchen, ausgleichen, in der Öffentlichkeit der eigenen Partei hinterherfegen, wenn die mal wieder Scherben hinterlassen hat.

Bei Gysi war es anders. Bielefeld, die Rückzugsankündigung, das war für ihn so etwas wie ein Startschuss: in die fünfte Karriere, so unabhängig wie nie. Mit 68.

Rechtsanwalt der Opposition in der DDR. Da gab es keine Unabhängigkeit vor Staatspartei und ihren Institutionen. Retter und Vorsitzender der PDS nach der Wende. Da hatte er die Verantwortung für ein ganzes, verschwindendes Land und seine »Staatsklasse«, der der Staat abhanden gekommen war, so sah er das damals. Jahrelanger Fraktionschef im Bundestag. Da legte ihm jene »bunte Truppe« die Fesseln des Parteipolitischen an. Mitkonstrukteur einer fusionierten Linkspartei. Da musste man Kompromisse mit den Gewerkschaftern und Ex-Sozialdemokraten aus dem Westen machen, und das war viel schwerer, als mancher angenommen hatte.

Eine komplizierte Beziehung

Aber nun seit einem Jahr: der Elder Statesman der Linkspartei, der Mann, der sich für die großen Linien zuständig hält, der Mahner, der sein letzten großes Projekt verfolgt: die Linkspartei aus einer Festlegung auf die Oppositionsrolle hinauszuführen. Rot-Rot-Grün gilt dem Berliner als entscheidender Beitrag gegen den Rechtsruck. In seiner Partei sieht das mancher anders. Aber Gysi ist jetzt unabhängig.

Und so ist es immer auch eine komplizierte Beziehung geblieben zwischen ihm und der Linkspartei. Eine, in der große Verehrung und unterdrückte Verärgerung nebeneinander existieren können - in beide Richtungen. Die LINKE weiß, wie sehr sie den Wahlkämpfer, den Rhetoriker, den Wählerliebling braucht, der auch jenseits der Grenzen der eigenen Anhängerschaft ankommt. Und sie weiß, dass Gysi nerven kann in einem politischen Sinne, der produktiv sein könnte, wenn die, die genervt werden, etwas mit der Kritik anzufangen wissen.

Vor dem jüngsten Parteitag hatte er die LINKE als »saft- und kraftlos« bezeichnet. Das machte tagelang Schlagzeilen, obwohl andere Politiker der Partei sich weit deutlicher über den Zustand geäußert hatten. Aber sie waren nicht Gysi. Die Wähler würden der Partei »die Gestaltungskraft absprechen, weil wir auf Bundesebene den Eindruck vermitteln, nicht in die Regierung zu wollen«, das war das, waorauf er hinauswollte. Auch ein Brief Gysis an die neue Fraktionsspitze aus dem Frühjahr, in dem dieser auf eine Klärung seiner Aufgaben im Bundestag drängte, ist in Erinnerung. Wegen der Schlagzeilen, die er machte. Sahra Wagenknecht hatte auf das Schreiben mit den Worten geantwortet, es sei spürbar, »dass es ihm schwerfällt, mit seiner aktuellen Stellung zurechtzukommen«.

Nein zu sagen, das ist ihm immer schon schwer gefallen

War das so? Ist das so? Wer Gysi erlebt hat seit dem Abschied von Bielefeld, der ja keiner war, mit dem aber der Politiker und Mensch Gysi einen Schlussstrich ziehen wollte - mehr freie Zeit, mehr Gelegenheit für das dann doch schmerzlich vermisste Private, mehr Muße jenseits der Mühle aus Talkshows, Gremiensitzungen und Wahlkampfbühnen in der Provinz -, wer diesen Nach-Bielefeld-Gysi erlebte, sah keinen anderen Menschen. Mehr Zeit für anderes hatte er jedenfalls nicht. Und wollte es wohl auch nicht. Nein zu sagen, das ist ihm immer schon schwer gefallen. Weil es ihm um etwas geht und Gysi ein Political Animal ist. Einer mit der Haltung: Es muss weitergehen. Weil noch nicht das Ziel erreicht ist. Und ja, es hat natürlich auch ein bisschen mit seiner Eitelkeit zu tun. Gysi lässt sich eben gern fragen.

Dem »Berliner Kurier«, das Verhältnis des Linkenpolitikers zu dieser lokalen Boulevardzeitung ist eine ganz eigene Geschichte, hat Gysi seine Entscheidung jetzt mit den »Bitten und Signalen« begründet, die ihn aus seinem Wahlkreis in Treptow-Köpenick erreicht hätten. Dann kommt ein Satz aus dem Standardformulierungskasten der Politiker: »Dem kann und will ich mich nach reiflicher Überlegung nicht entziehen«, sagt da einer, der seine Rolle auch als dienende erkannt haben möchte, als eine uneigennützige, als eine, in der es um von anderen eröffnete, erbetene Verantwortung geht.

»Wenn mich meine Partei nominiert«

Dass er sich nicht ellenbogenstark einfach so in die erste Reihe drängelt, seine Kandidatur selbstverständlich unter den Vorbehalt stellt, »wenn mich meine Partei nominiert«, ist so sehr Gysi wie ein starkes Moment der Unabhängigkeit in seiner Ankündigung liegt. Gysi will »als Direktkandidat« ins Rennen gehen, auf einen Platz auf der Landesliste verzichtet er. Das erhöht für ihn nicht nur den Einsatz im Wahlkampf, es macht ihn im Falle des Erfolgs auch noch ein weiteres Stück freier. Wenn Gysi 2017 in den Bundestag zieht, wird die Linke das merken.

Gysi hat ein Ziel, und das ist nicht so einfach in die schroffen Raster der parteiinternen Debatte über die Regierungsfrage zu pressen. Ja, er hat immer schon eher für ein Ja zu Koalitionsbeteiligungen plädiert. Er war ja selber kurz Wirtschaftssenator in Berlin. Aber seit ein, zwei Jahren ist sein Plädoyer für Regierungsfähigkeit von einem ernsten, historischen Sound umweht: Es geht Gysi darum, ein noch weiteres Abkippen nach Rechts zu verhindern. In Deutschland und Europa. Darin sieht er eine große Verantwortung für die Linkspartei.

Die Union muss in die Opposition, dann saugt sie das rechte Potenzial wieder ab, das derzeit die AfD starkmacht. Das ist ganz vereinfacht gesprochen die Logik dahinter. Und der Weg dorthin führt derzeit nur über Rot-Rot-Grün.

»Der Protest gegen Merkel muss in die richtigen Bahnen, damit sich endlich etwas positiv entwickelt im Land.« Und deshalb mahnt, drängt, fordert Gysi seine Linkspartei seit Monaten dazu, »noch mehr Verantwortung« übernehmen zu wollen. In den Grenzen, die man sich selbst gesetzt hat – natürlich. Aber eben auch mit einer politischen Herangehensweise an die »roten Haltelinien«. Eine »andere, eine soziale, friedliche und demokratische Politik«, das bleibt Gysis Ziel. Auch wenn die Kritiker in den eigenen Reihen das den Freunden des Mitregierens gern bestreiten.

Es ist erst ein paar Tage her, da hat sich Gregor Gysi wieder einmal zu Wort gemeldet. Zusammen mit Klaus Lederer, dem Spitzenkandidaten bei der Berliner Wahl am kommenden Sonntag. Man müsse den »Menschen die Hoffnung« wiedergeben, »dass die Gesellschaft politisch, nach ihren Interessen, durch sie selbst, gestaltbar ist. Dass sie nicht Objekte abstrakter Mächte sind, sondern Subjekte gesellschaftlichen Fortschritts sein können.« So haben es die beiden formuliert.

Dahinter steckt ein Gedanke, der mit viel mehr als bloß Mitregieren zu tun hat: Erst wenn sich wieder wirklich etwas ändert, und dazu muss die Linke auch jene begrenzte »Macht« wollen, die eine Regierung unter den gegebenen Verhältnissen hat, werde das Fundament für weitergehende, radikalere Veränderung breiter. »Holen wir die Hoffnung wieder auf die linke Seite«, so hat es Gysi formuliert. Er macht weiter. Wenn ihn die Partei lässt.

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