Zurück in den Jungle von Calais
Warum eine Rückkehr zu den Menschen wichtig ist, aber nun doch unter anderen Vorzeichen stattfindet
Wir sind wieder auf dem Weg in den Jungle von Calais, dem seit mehreren Jahren bestehenden Flüchtlingscamp am Eurotunnel nach Großbritannien, einer zum Slum verstetigten Zwischenstation für jene, deren Hoffnung darin besteht, endlich über den Ärmelkanal zu gelangen. Nachdem wir Ende März/Anfang April erstmals dort waren, um als Volunteers bei l'auberge des Migrants/help Refugees zu helfen, war für uns schnell klar, wieder hinfahren zu wollen und müssen.
Schon damals ging es uns auch darum, nicht nur pragmatische Unterstützungsarbeit zu leisten, sondern über die Lage vor Ort aufzuklären und die politische Situation der Geflüchteten sichtbar zu machen. Dieser Tagebuch war Ergebnis des Vorhabens und soll an dieser Stelle dazu dienen, unser Projekt weiter zu führen.
Den Sommer haben wir über die damalige Lage in Calais in einer Vortragsreise und einer Ausstellung in zahlreichen Städten informiert, unsere Erlebnisse verarbeitet und unsere Erfahrungen gemeinsam in Diskussionen reflektiert – auch was die Widersprüche zwischen unserem politischen Anspruch als Aktivist_innen und dem Verwalten des Status Quo innerhalb der Unterstützungsstrukturen anging.
Dennoch hatten wir wieder vor, als Volunteers zu arbeiten und werden dies auch tun - ebenso wie wir planten, die selbstorganisierten Projekte der Geflüchteten, wie die Bibliothek Jungle Books oder den Refugee Info Bus, der eine mobile Rechtsberatung samt Internet-Hotspot anbietet, mit Technik zu versorgen. Seit dem Sommer hat sich die Lage im Camp aber erneut verschärft, sodass auch wir nun mit veränderten Absichten nach Nordfrankreich fahren und nach weiter nach einer sinnvollen Verwendung der gesammelten Spenden suchen.
Inzwischen leben im Jungle 10.000 Menschen, im März waren es knapp 6.000. Eine Mauer soll zwischen Lager und Autobahn gebaut werden, um die nächtlichen Versuche der Campbewohner_innen, auf die LKW's am Eurotunnel zu springen, um nach Großbritannien zu kommen, weiter zu erschweren. Die Stimmung in der Bevölkerung ist so aufgeheizt wie nie zuvor. Örtliche Geschäftsleute, Bewohner_innen und Trucker demonstrieren, um die französische Regierung zu einem konkreten Termin der von Seiten der Regierung schon lange angekündigten Räumung des Camps zu bewegen. Das Gebiet um Calais ist eine der Gegenden, in denen der Front National traditionell stark verankert ist. Ein Räumungstermin ist dennoch immer noch nicht offiziell angekündigt worden.
Nichtsdestotrotz verschärft der Staat die willkürlichen repressiven Maßnahmen gegen die zahlreichen Shops und Restaurants im Jungle, mutmaßliche Betreiber wurden festgenommen, die Versorgung des Camps mit Baumaterial wurde zeitweise unterbunden. Die Aufrechterhaltung der Infrastruktur im Jungle soll somit verschärft werden – die Verschlechterung der Lebensbedingungen wird billigend in Kauf genommen. Der verschärften Repression nach Innen entspricht die erhöhte Abschottung nach Außen. Großbritannien will die Grenzsicherung nach aktuellen Berichten für 80 Millionen Pfund privatisieren, die Ausschreibung ist bereits abgeschlossen. Den schon erwähnten Mauerbau für 2,6 Mio. Euro finanziert Großbritannien ebenfalls. Was das konkret für die Lage vor Ort bedeutet, werden wir versuchen herauszufinden.
Da derzeit alles zur Disposition steht, was auf dem Camp in den letzten Jahre entstanden ist, hat Jungle Books keinen Bedarf nach Technik. Der Refugee Info Bus, der derzeit schon durch das Gebiet fährt, ist fürs Erste voll ausgestattet. Wenn die Räumung konkret ansteht, werden die Menschen jedoch nicht plötzlich weg sein. Bereits jetzt scheint es schon zwei weitere inoffizielle Camps zu geben.
Zwar sind wir wieder als Volunteers angemeldet, werden aber mehr als während unserer letzten Reise versuchen, mit Geflüchteten und Organisationen vor Ort ins Gespräch zu kommen, um die veränderte Lage und die daraus folgenden Perspektiven für die Campbewohner_innen in den Blick zu bekommen. Auch werden wir uns wohl den widersprüchlichen gewerkschaftlichen Kämpfen widmen. Die größte Gewerkschaft CGT und deren Branchenstruktur in der Logistik hat sich klar gegen eine Räumung des Jungle ausgesprochen und vor Standpunkten innerhalb der französischen Sozialdemokratie gewarnt, in denen die Interessen von Arbeitern und diejenigen der Geflüchteten gegeneinander ausgespielt werden. Die örtliche Gewerkschaftsstruktur hat sich allerdings für eine Räumung ausgesprochen.
Der Jungle steht im Spannungsfeld zwischen den Aspekten des europäischen Grenzregimes, dem Alltag und den Kämpfen der Geflüchteten und dem Verhalten der französischen Bevölkerung und Organisationen – wir versuchen dieser Breite der aktuellen Geschehnisse in den geplanten Recherchen während der nächsten Tage so gut wie möglich gerecht zu werden. Und möchten an der Stelle auch allen, die diesen Text als den Ersten lesen, unsere älteren Beiträge vom März/April 2016 ans Herz legen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.