Zu traurig, zu kalt
Bus-Chaos und Trinktourismus: ein Buch über die Sonnenallee
In dem von den Medien inzwischen vom Armuts- zum »Trendbezirk« beförderten Berliner Stadtteil Neukölln ist, das kann als bekannt vorausgesetzt werden, nicht alles zum Besten bestellt. Früher galt er lange als »Problemkiez«. Die Zahl der Pfandflaschensammler wächst auch heute. Ganze Straßenzüge sehen aus, als hätte sich die Müllabfuhr dort schon länger nicht mehr sehen lassen, wenn auch in den letzten Jahren der Versuch unternommen wird, Teile Neuköllns zur coolen Popkultur- und Ausgehmeile umzulügen bzw. umzufunktionieren.
Die fröhliche Gentrifizierung ist jedenfalls, wie’s scheint, tatsächlich nicht aufzuhalten: »Nachdem eine ganze Generation junger Künstler und Akademiker den Kiez mit großer Mühe schickgewohnt hat und durch kompromisslose Elektro-Partys und Cocktailtrinken bis zur Selbstaufgabe nachhaltige Verdrängungsprozesse anstoßen konnte, werden jene Pioniere nun ihrerseits von der nächsten Generation von Easy-Jet-Settern, Spekulanten und Agenturensöhnen wieder aus dem Bezirk getrieben«, sagt Georg Kammerer (Die PARTEI), der in Neukölln lebt und dort für den Posten des Bezirksbürgermeisters kandidiert. Tatsächlich haben sich in einigen einst einigermaßen heruntergewirtschafteten Gegenden bereits die grünwählenden Reiswaffelmuttis und Grafikdesignpapas samt Nachwuchs eingenistet.
Die »Metrobuslinie« 41, die vom Hauptbahnhof durch Kreuzberg und Neukölln zur Treptower Baumschulenstraße fährt und dabei auch die legendäre und endlos lange Neuköllner Sonnenallee passiert, erinnert die Fahrgäste Tag für Tag aufs Neue daran, dass die Berliner Verkehrsbetriebe ein Unternehmen sind, das besser daran täte, sich auf dem ökonomischen Sektor des Viehtransports zu betätigen, statt stur darauf zu bestehen, ausgerechnet Menschen von A nach B bringen zu dürfen.
Und vor den großen Supermarkt-Discountern Neuköllns haben sich diverse hartnäckige Trinkeransiedlungen gebildet, weil die Preise für Bier und Schnaps in den Eckkneipen für sie schon lange nicht mehr bezahlbar sind. Obdachlose und Bettler sind zwar nicht permanent im Stadtbild präsent, »sie sind allerdings noch da - an die Ränder gedrängt, aus den Augen, aus dem Sinn. Sie sind unsichtbar, unsichtbar gemacht, wie die anderen Armen, die vor Not und Krieg nach Deutschland geflohen sind. In Masse sind sie gar nicht sichtbar, nur als Vereinzelte, manchmal, wenn man nicht ausweichen kann, dann sieht man sie. Sie sind nicht verschwunden, sie sind da. Und man kann ihnen nicht mehr lange ausweichen. Denn es werden immer mehr. Und eine anwachsende Menge kann nicht lang unsichtbar bleiben.«
Sätze, wie man sie für gewöhnlich in für Touristen gemachten Reiseführern und Städtebüchern - und um ein solches handelt es sich hier - vergeblich sucht. Aber hier stehen sie, schwarz auf weiß.
Der, der sie geschrieben hat, der Anfang der 90er Jahre aus Bielefeld nach Berlin gekommene Verleger Jörg Sundermeier, ist mittlerweile so etwas wie eine Berliner Institution: Er leitet den in jüngster Zeit mit renommierten Preisen bedachten Verbrecher-Verlag und wohnt seit vielen Jahren selbst in Neukölln, in unmittelbarer Nähe der Sonnenallee, über die er jetzt ein Buch geschrieben hat, das naturgemäß »Die Sonnenallee« heißt. Doch haben wir es hier nicht mit einem bloßen Porträt der Straße, ihrer Besonderheiten und ihrer Bewohner zu tun.
Sundermeier hat nicht nur die Geschichte der einstigen »Braunauer Straße«, wie sie unter Hitler hieß, recherchiert, viel Lokalkolorit eingefangen oder historisch gewordene Figuren wie den »Hauptmann von Köpenick« wieder ausgegraben. Er erzählt auch von den »internationalen Partyhorden, die heute Teile Neuköllns bevölkern«, vom ökonomischen Boom in Straßen wie der Pannier- oder der Weserstraße, wo der »große Trinktourismus ausgebrochen« ist und im Stundentakt neue Bars und Cafés eröffnet werden. Man kann den Prozess der Gentrifizierung an diesen Straßen ganz ausgezeichnet beobachten. Noch vor 15 bis 20 Jahren, schreibt Sundermeier, sei die Weserstraße vor allem »dunkel« gewesen: »Ich war froh, wenn ich dort ging, dass nicht alle Laternen ›ausgetreten‹ waren, und ich war sogar darüber froh, dass an mancher Tür ein Rotlicht hing, das für ein bisschen Straßenbeleuchtung sorgte.«
Seine Schilderungen liebgewonnener und absonderlicher Orte sind vor allem nicht beschönigend und kommen erfreulicherweise auch nicht im toten Reklame-Slang der professionellen Städteporträtschreiber daher.
Sundermeier lässt bei seinen Exkursen auch Orte der Trostlosigkeit wie etwa das am Hermannplatz gelegene Karstadt-Warenhaus (»zu hässlich die Rolltreppen, zu traurig die Lampenabteilung, zu kalt das Selbstbedienungscafé«) nicht aus. Und er vergisst auch nicht, das zu erwähnen, was man gemeinhin verharmlosend »Berliner Küche« nennt: »Viel Fett mit Fleisch dran, aus der Gemüsebeilage ist restlos jedes Vitamin herausgekocht worden.«
Hin und wieder schüttelt er auch Anekdoten aus seiner eigenen Lebensgeschichte aus dem Ärmel, die mit dem Stadtteil eng verwoben ist. So erinnert er sich beispielsweise der vor einigen Jahren verblichenen legendären Trinkerkneipen »Blauer Affe« (»Tucholsky soll hier Stammgast gewesen sein«) und »Ambrosius«: »Bier ist hier kein Edelstoff, sondern einfach eine goldbraune Suppe, die man sich in großen Schlucken in den Mund gießt. Bier sollte hier nicht schmecken, der Alkohol sollte wirken.«
Jörg Sundermeier: »Die Sonnenallee«. Be.bra-Verlag, 142 S., 10 €.
An diesem Sonnabend, 19 Uhr, findet die Buchpremiere mit dem Autor im »Heimathafen Neukölln« statt.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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